Europa "vom Rande erneuern"
1. Januar 2005
Überall in der Stadt riecht es nach Wasser. Manchmal, wenn die Flut den Fluss zurück in die Stadt drängt, liegt der salzige Duft des nahen Ozeans in der Luft.
Fast alle Ozeanriesen machten hier auf ihrem Weg nach Amerika Station. Die Titanic begann hier ihre Reise in den Untergang. Tausende von Auswandererschiffen nahmen die Menschen auf, die vor Hunger und Not nach Amerika flohen. Die, die geblieben sind, wehrten sich so gut sie konnten gegen die Not im Lande und gegen die englische Kolonialmacht. "Cork war immer bekannt als die Rebellenstadt", erklärt Stadtführerin Noreen nicht ohne Stolz.
Cork – das sind die Kanäle unter dem Straßenpflaster, die Dichter, Künstler, Seefahrer, Hugenotten, jüdische Einwanderer. Und das irische Schicksalsjahr 1920: Damals erschossen britische Spezialtruppen den Bürgermeister und brannten die Innenstadt nieder, weil sich die Corker nicht mehr unter das Joch der Kolonialherren fügen wollten. Später mussten die Steuerzahler seiner Majestät den Wiederaufbau finanzieren.
Lebendige Kulturstadt
Die Stadt hat ein Jahrzehnt der Erneuerung hinter sich. Erst vor kurzem erhielt das Stadtzentrum ein neues Gesicht. Sein modernes Erscheinungsbild hat Cork vor allem der katalanischen Architektin Beth Gali zu verdanken. Sie lockerte das Straßenbild durch zahlreiche Plätze auf, ließ Bürgersteige mit kreativen Mustern pflastern und schuf Straßenlampen, die wie Kräne in den Himmel ragen. Enge, von Verkehr verstopfte Straßen, bestimmen in Cork nicht mehr das Bild. "Europa muss sich von den Rändern her nach innen erneuern, nicht vom Zentrum nach außen", beschreibt Shane Malone vom Komitee 2005 den Auftrag der Organisatoren des Kulturjahres. "Wir sind eine kleine Stadt am Rande Europas, aber wir können eine Menge beitragen zum Kulturleben des Kontinents."
Mehr als 4000 Veranstaltungen sollen dem Besucher im Rahmen des Kulturhauptstadt-Jahres geboten werden. Internationale Folklore, Chorgesang und Jazz gehören ebenso dazu wie Film und Literatur. Ein Schwerpunkt liegt auf der Lesung von Gedichten aus den zehn Ländern, die im Mai 2004 neu zur EU kamen. Neue Theaterstücke fehlen ebenso wenig wie Sportveranstaltungen, ein Schachturnier und Kulturbeiträge von Schulen und ethnischen Gruppen. "Wir sind als Hafenstadt traditionell offen für Neues", sagt Malone.
Kleinste Kulturhauptstadt bislang
In Irland, heißt es, ist jedes vierte Haus eine Kirche und jedes dritte eine Kneipe. In Cork sind es ein paar Kirchen weniger und einige Kneipen mehr. Eigentlich soll die örtliche Szene im Kulturstadtjahr im Vordergrund stehen, Cork bietet aber auch "große Namen" auf. So wird Stararchitekt Daniel Libeskind einen Vortrag halten, ein von ihm geschaffener Pavillon wird während des Sommers im Stadtpark aufgestellt. "Cork bekommt die einmalige Chance, seinen kulturellen Stellenwert auf der internationalen Bühne vorzuführen", sagt Mary McCarthy, Programmdirektorin für Cork 2005. Die Stadt werde gezwungen, nach vorne zu schauen. "Die Bestimmung als Kulturhauptstadt war der Auslöser für die Verjüngung der Stadt. Das Vermächtnis wird bleibend sein", sagt McCarthy.
Cork ist die bisher kleinste Stadt, die den 1985 von der EU geschaffenen Titel "Kulturhauptstadt Europas" trägt. Bologna, Antwerpen, Glasgow, Weimar, Lille und Graz zählten zu den Vorgängern. Im Vergleich zu anderen Städten hatte Cork ein relativ bescheidenes Budget. Die Stadt muss mit 13,5 Millionen Euro auskommen, im Vergleich zu etwa 100 Millionen Euro, die 2008 der nordenglischen Hafenstadt Liverpool zur Verfügung stehen werden. (arn)