Europäische Schriftstellerkonferenz
9. Mai 2014Ach, Europa. Je genauer man versucht, es in den Blick zu nehmen, desto verschwommener werden die Umrisse. Europa - ein Kontinent, eine Denkfigur, eine Utopie? Postkoloniale Festung oder Gralshüter der Freiheit, Kulturraum oder bloßer Wunschtraum?
30 Schriftsteller aus 24 Ländern sind in Berlin zusammengekommen, um Europa in Gesprächen unter die Lupe zu nehmen. Nichts Weltbewegendes, sollte man meinen, in einer Zeit, in der Autoren vom brummenden Kulturbetrieb rund um die Welt geschickt werden. So wie die deutsche Autorin Antje Rávic Strubel, eine der Initiatorinnen des Treffens. Aber "beim Organisieren der Konferenz ist mir aufgefallen, wie wenig ich weiß von vielen europäischen Ländern und ihrer Literatur. Wir lesen halt doch viele amerikanische und englischsprachige Autoren. Es gibt viele Regionen, von denen ich keine Ahnung habe. Und diese Autoren kennenzulernen, ist das, was die Konferenz leistet".
Streichquartett und Konzentrationslager
Tatsächlich eröffnet sich schon zu Beginn der Tagung ein Horizont von Weißrussland bis Frankreich, von Schweden bis Slowenien. Schnell werden Missverständnisse deutlich. Da fragt die Moderatorin die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko, ob sie sich ein wenig als Europäerin fühlt. "Ich habe mich immer ukrainisch gefühlt", antwortet sie ziemlich spitz, "und darum habe ich mich immer europäisch gefühlt!"
"Wir mussten die Ukraine erst mal auf der Landkarte suchen", bekennt kurz darauf der slowenische Autor Goran Vojnović, "niemand wusste, dass da auch Russen leben". Dabei hat er selbst Wurzeln in der Ukraine: Dort wurde sein Urgroßvater geboren, die Urgroßmutter kam aus Polen, gemeinsam zogen sie ins heutige Bosnien. "Ein paar Jahre später", erzählt Vojnović, "wurde mein Urgroßvater ins heutige Slowenien geschickt, um für Österreich gegen Italien zu kämpfen und schließlich in Jugoslawien zu sterben."
Was also verbindet die Europäer, wenn schon Autoren mit durch und durch europäischer Identität bei der Frage im Nebel stochern? Nicht viel, glaubt man dem Schweden Richard Swartz, der auf gerade mal vier Punkte kommt: das Streichquartett, eine gute Flasche französischer Rotwein, Konzentrationslager und die Amsel, die vornehmlich in Europa singt. Schon regt sich Widerspruch: Wo bleiben europäische Aufklärung und Renaissance, wo die Französische Revolution? Und ist nicht Europa vielmehr eine Erfolgsgeschichte des Friedens nach Jahrhunderten der Kriege und Erzfeindschaften?
Erfolgsgeschichte Europa?
Zumindest vielstimmig ist dieses geographisch-politisch-philosophische Gebilde und das kann auch ein Wert an sich sein. Autor Tilman Spengler jedenfalls, einer der Initiatoren des Treffens, ist überzeugt, dass Europa "vielen Menschen Glück gebracht hat". Ein bedrohtes Glück indessen. In Bayern, wo die erzkonservative CSU die politische Landschaft dominiert, habe er "eine ungute Tonlage" und "eine latente Xenophobie", Fremden- und Europafeindlichkeit erlebt.
Dass Europa auch eine Erfolgsgeschichte ist, wird schon mit Blick auf das Jahr 1988 deutlich. In diesem fand in West-Berlin die erste - und bisher einzige - europäische Schriftsteller-Konferenz statt. Wie abenteuerlich es war, überhaupt in den Westen zu gelangen, wenn man hinter dem Eisernen Vorhang lebte, daran erinnerte der Ungar György Dalos. Um ein Jahr in Wien zu verbringen, hatte er eine Aufenthaltsgenehmigung der ungarischen Behörden: "als Arbeitnehmer, der einen Teil seines Gehalts in Westwährung nach Ungarn schicken musste". Den österreichischen Behörden, so Dalos, "galt ich wiederum als unversicherter Tourist und musste meine Aufenthaltserlaubnis regelmäßig bei der Fremdenpolizei verlängern".
Versteckte Krankheiten diagnostizieren
Inzwischen scheint es selbstverständlich, dass man zwischen Ungarn, Österreich und Deutschland hin und her reisen kann. Aber ist Europa deswegen gesund? Über der Konferenz des Jahres 2014 schwebt als größte Bedrohung des europäischen Glücks der Ukraine-Konflikt. Eine Tragödie, sagt Oksana Sabuschko aus Kiew - und geht nicht nur mit Regierenden, sondern auch mit Schreibenden ins Gericht: "Ein Panzer aus Worten überdeckt, verfälscht und maskiert diese Tragödie", moniert sie. "Daraus macht man Geschichten, die in den Medien breitgetreten werden, während Blut vergossen wird." Und dennoch sieht sie eine Chance im Schreiben: "Die europäische Gegenwartsliteratur versucht heute, versteckte Krankheiten der europäischen Zivilisation zu diagnostizieren".
"Küsse einen Europäer"
Doch von einer großen Erzählung, die Europa einen könnte, ist man weit entfernt. "Europa wird niemals das eine, letztgültige Narrativ haben", bekannte auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der zum Kreis der Konferenz-Initiatoren zählt und das Treffen eröffnete. "Europa wird nie nur eine gemeinsame Identität haben", genauso wenig werde es "mit einer Stimme sprechen". Aber die brauche es auch nicht, sondern "Mechanismen, Instrumente, Verabredungen, die aus der Vielzahl seiner Stimmen ein gemeinsames Handeln machen".
Und so gab es am Ende eines langen Tages ein Manifest der Autoren, in dem sich Europa mal als Traum, mal als Trauma zeigt. Mal politisch, mal ganz poetisch - so wie bei der Dänin Janne Teller:
"Liebe Welt, / küsse einen Europäer; / Die brauchen das. / Liebes Europa, / Küsse die Welt; / Du brauchst es."