Großbaustelle Europa
19. Dezember 2013"Wer mehr Europa will, der muss auch bereit sein, bestimmte Kompetenzen neu zu regeln." Mit diesen Worten deutete Bundeskanzlerin Angela Merkel relativ unverhohlen an, dass für sie eine Zukunft der europäischen Einigung ohne Änderungen der EU-Verträge nicht denkbar ist.
Natürlich liegt es nahe, dass die Kanzlerin in ihrer ersten Rede vor dem Bundestag einen besonderen Akzent auf das Thema Europa setzt, wenn am Tag darauf ein wichtiger EU-Gipfel beginnt. Dass durch die lange Dauer der Regierungsbildung die Termine so unmittelbar aufeinander folgen, war zwar eher Zufall - und doch passt es gut zusammen: Deutschland ist momentan ökonomisch das stärkste EU-Land, hat die Finanz- und Wirtschaftskrise einigermaßen unbeschadet überstanden und tritt entsprechend selbstbewusst auf.
Fördern und Fordern
Auch unter der schwarz-roten Bundesregierung erwarten Experten wie Daniela Schwarzer von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) keine grundsätzlich andere Ausrichtung der Europapolitik. Zwar müssten sich die Koalitionspartner CDU und SPD in einigen Punkten erstmal miteinander einigen, aber Deutschland werde auch weiterhin EU-Mitgliedern wie Griechenland oder Spanien Hilfe gewähren - und gleichzeitig Reformen einfordern, damit die Länder aus eigener Kraft wettbewerbsfähig werden.
"Aber das Drängen auf Konsolidierung war zu stark, es wurde von einigen Staaten zu viel Anpassung in zu kurzer Zeit verlangt", sagt Schwarzer und ergänzt: "Man sieht jetzt, dass volkswirtschaftliche Auswirkungen negativer ausfallen als erwartet und dass damit politische und soziale Risiken in den Mitgliedsstaaten einhergehen, die meiner Ansicht nach beunruhigend sind."
Deshalb werde das kommende Jahr sicher geprägt sein von Überlegungen, wie die Anpassungsmaßnahmen in den Krisenländern aussehen könnten, so die Erwartung der Politökonomin. Und es müsse geprüft werden, ob nicht möglicherweise zusätzlich zu Solidaritätsfonds für einzelne Länder auch temporäre Hilfsprogramme für die Wirtschaft nach Vorbild des Marshall-Plans erforderlich sind.
Ungleiche Verbündete
Eine weitere wichtige europäische Baustelle für Angela Merkel ist das Verhältnis zum langjährigen Verbündeten Frankreich. Traditionell führt die erste Dienstreise deutsche Regierungschefs nach ihrem Amtsantritt gen Paris. So auch die Kanzlerin, um dort mit Präsident François Hollande den Donnerstag beginnenden EU-Gipfel in Brüssel vorzubereiten.
Deutschland und Frankreich sind schon wegen ihrer Größe die bestimmenden Kräfte im europäischen Haus. Doch die Gewichtung verändert sich gerade, beobachtet Katrin Böttger, stellvertretende Direktorin des Instituts für europäische Politik (IEP): "Man hat den Eindruck, dass im Moment Frankreich eher schwächer wird und Deutschland eher stärker, nicht nur ökonomisch, auch von der Bedeutung her bei Verhandlungen." Jetzt sei es Deutschlands Aufgabe, Frankreich mitzuziehen und gemeinsam Projekte voranzutreiben. "Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Deutschland und Frankreich nicht deshalb EU-Integration vorantreiben, weil sie immer einer Meinung sind, sondern wenn die beiden es schaffen, einen Kompromiss zu finden, dann wird er von den anderen mitgetragen." Und das müsse auch in Zukunft so beibehalten werden.
Minenfeld Sicherheitspolitik
So gut und gewichtig Deutschland wirtschaftspolitisch dasteht, so knifflig ist seine Position im Bereich Sicherheitspolitik. Einerseits wurde in der Vergangenheit immer wieder der Vorwurf laut, die Bundesrepublik engagiere sich nicht genügend bei internationalen Einsätzen in Krisengebieten. Andererseits löst die Vorstellung eines auch militärisch starken Deutschlands vielerorts historische Ängste aus.
Deshalb sei es verständlich, so SWP-Europa-Expertin Schwarzer, dass Berlin sich auch künftig bei militärischen Einsätzen zurückhalten und stattdessen mehr Unterstützung für präventive und friedliche Missionen gewähren wird. Allerdings müsse man sich dann auf die Kritik einstellen, im verteidigungspolitischen Bereich lasse Deutschland "die anderen machen".
Deutschland stehe ihrer Ansicht nach vor der Aufgabe, gemeinsam mit Frankreich, das sich militärisch wesentlich aktiver engagiere, und vielleicht noch Großbritannien und Polen die Verteidigungspolitik der Europäischen Union zu stärken. Das sei umso wichtiger, da sich die USA immer stärker aus "relevanten Konflikträumen" wie Osteuropa, Zentralasien oder dem südlichen Mittelmeerraum zurückzögen, damit sich Europa selbst darum kümmere.
Pulverfass Ukraine
Deutschland steht nicht nur im Zentrum Europas in besonderer Verantwortung, es wird auch am östlichen Rand um Hilfe gebeten: Die prowestliche Opposition in der Ukraine will Berlin als Vermittler in der verfahrenen Situation im Land. IEP-Direktorin Katrin Böttger hält das für keine gute Idee, weil die Bundesrepublik in der Frage nicht neutral sei: "Da bin ich zögerlich, weil Deutschland und die EU klare Interessen in der Region vertreten und die wirtschaftliche Kooperation voranbringen wollen."
Dass die Europäische Union im Werben um die Ukraine gegen Russland den kürzeren gezogen hat, müsse sie sich selbst zuschreiben, so die Europa-Expertin. "Ich denke, die EU hat unterschätzt, wie wichtig Russland ökonomisch für diese Länder ist. Die EU macht Angebote in Bezug auf Visafreiheit und Handel, die häufig erst mittel- oder langfristig für die Bevölkerung attraktiv sind, aber die müssen sehen, wo sie kurzfristig bleiben, wie sie heizen und was sie essen." Und genau das sichere zum Beispiel der jetzt abgeschlossene 15-Milliarden-Dollar-Deal, in dem Moskau Kiew günstigere Gaspreise und eine teilweise Übernahme von Staatsschulden einräumt - was die EU bislang immer abgelehnt hatte.
Eine mögliche Lösung des Dilemmas hat Katrin Böttger schon - und da sieht sie die neue Bundesregierung bereits auf einem guten Weg: "Das hat Merkel ja gesagt, dass man diesen Ländern ein 'sowohl - als auch' ermöglicht, denn ein 'entweder - oder' wird nicht funktionieren."