Europa geht weiter, aber wohin?
11. Juni 2005Die 25 Staats- und Regierungschefs hätten auch ohne die Verfassungskrise schon eine pralle Tagesordnung gehabt. Finanzen, Wirtschaftswachstum, Entwicklungshilfe und Waffenembargo gegen China lauten die Stichworte auf der Agenda des EU-Gipfels am 16. und 17. Juni.
Doch das doppelte Nein aus Frankreich und den Niederlanden zur Verfassung zwingt die führenden europäischen Politiker jetzt zu einer Antwort. Quo vadis, wohin soll der Weg Europas gehen? Im Europa-Parlament bekannte der schockierte Fraktionschefs der Sozialisten, Martin Schulz, unumwunden, dass es kein Patentrezept gibt: "Ich will hier bekennen, dass ich ratlos bin. Ich glaube, da bin ich nicht alleine."
Pausieren und Denken
Zunächst hieß die Parole: weiter so. Die Ratifizierung müsse fortgesetzt werden. Jetzt wird der Ruf nach einer Denkpause lauter, schon deshalb, weil man so Zeit gewinnt, einen Ausweg zu finden, glaubt Fraser Cameron vom Brüssler Forschungsinstitut European Policy Center. Mit dem derzeitigen Führungspersonal sei wenig Staat zu machen: "Wir brauchen eine Pause bis zu zwei Jahren, bis wir eine neue Führung in Deutschland, in Frankreich und auch in Großbritannien haben", sagt er. Erst dann könne man weitersehen, ob von der Verfassung noch etwas zu retten sei. "In ihrer jetzigen Form ist die Verfassung tot", urteilt Cameron.
In der Denkpause sollten Ziele und Grenzen Europas grundsätzlich diskutiert werden, forderte der britische Premierminister Tony Blair, der am 1. Juli die Ratspräsidentschaft der EU übernehmen wird. Der luxemburgische Europaminister Nicolas Schmit machte klar, dass man die EU-Bürger diesmal mitnehmen müsse: "Wir müssen die demokratische Debatte in unsere Länder und in die Parlamente tragen. Wir müssen sie mit den Menschen und den Sozialpartnern führen. Wir müssen die Zeit, die wir verloren haben, wieder aufholen."
Übungen in Selbstkritik
Martin Schulz, der Sozialistenchef im Parlament, übt ebenfalls Selbstkritik. Europa müsse mehr soziale Sicherheit und Jobs produzieren, das sei ein mühsamer Weg: "Die Menschen haben zum Teil richtig Angst", sagt er. "Und jetzt rächt sich, dass die Politiker viel zu lange immer so getan haben, als hätten sie für all diese Probleme Ad-hoc-Lösungen, die sie in Wirklichkeit gar nicht haben."
Der Fraktionschef der Konservativen im Europa-Parlament, Hans-Gerd Pöttering, warnt vor einer zu schnellen Erweiterung der Union durch immer mehr Mitgliedsländer. In der jetzigen Lage Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, hält er für falsch: "Wir dürfen die EU politisch, kulturell und geografisch nicht überdehnen", fordert er. "Das ist die große Sorge, die in den Referenden deutlich zum Ausdruck gekommen ist."
Kein Durchbruch beim Gipfel
Beim anstehenden Gipfeltreffen sollten die Staats- und Regierungschefs über ihre Schatten springen und den heiß umkämpften Finanzrahmen der EU bis zum Jahr 2013 verabschieden. Das wäre das richtige Signal, glaubt EU-Kommissionspräsident Jose Barroso: "Es ist nötig, einen Kompromiss für den Haushaltsrahmen zu finden. So können wir ein Zeichen setzen, dass Europa nicht stillsteht, sondern in der Lage sind, Schwierigkeiten zu überwinden."
An einen Durchbruch beim Gipfel glaubt Fraser Cameron von der Denkfabrik European Policy Center nicht. Die Positionen Großbritanniens, der Nettozahler und der Empfängerländer scheinen unvereinbar. Auch ohne Verfassung werde die EU nicht auseinander brechen, wenn man die Krise jetzt als Chance begreife. "In der Vergangenheit haben wir immer eine Lösung gefunden und danach wurde Europa gestärkt", gibt sich Cameron bedingt zuversichtlich.
Jose Barroso, den Chef der EU-Bürokraten, hat wohl schon der Mut der Verzweiflung gepackt. Bei einem Pressetermin mit dem Rockstar Bono zitierte Barroso aus einem Song der Band U2 und münzte den Text auf die Lage der EU: "Dont worry baby, it's gonna be alright. Uncertainty can be a guiding light." - "Mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Unsicherheit weist uns den Weg!"