EU-Vizepräsidentin: "Ich trete nicht zurück"
30. September 2020Die Tschechin Vera Jourova ist Vizepräsidentin der EU-Kommission in Brüssel und für Rechtsstaatlichkeit zuständig. An diesem Mittwoch hat die Kommission ihren ersten Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten vorgestellt. Im DW-Interview tritt Jourova dafür ein, dass EU-Gelder nur an Länder fließen, die auch die Grundwerte der Gemeinschaft einhalten.
DW: Polnische LGBT-Aktivisten haben die Europäische Union aufgefordert, für ihre Rechte einzutreten. Nun hat die Mehrheit der EU-Staaten einen Vorschlag unterstützt, wonach Mitgliedsstaaten sanktioniert werden könnten, wenn sie die Rechtsstaatlichkeit missachten. Und Ihre Behörde in Brüssel hat einen Rechtsstaats-Check veröffentlicht. Wie aber hilft das den LGBT-Aktivisten in Polen?
Vera Jourova: Wir verurteilen Angriffe auf die LGBTI-Community in Polen nachdrücklich - und die Behauptung, das seien "leere Worte", weise ich zurück. Ursula von der Leyen hat sehr deutlich gemacht, dass LGBTI-freie Zonen unzumutbar sind und nicht in unsere Union gehören. Wir haben reagiert und Zuschüsse an Gemeinden, in denen es solche Zonen gibt, abgelehnt. Außerdem gibt es Mitgliedsstaaten und Städte, die ihre Partnerschaften mit solchen Städten nicht fortsetzen möchten. Also kommt Druck von verschiedenen Seiten. Aber ich glaube, um Fortschritte zu machen, müssen wir andere Mittel nutzen - und vor allem dafür sorgen, dass Länder nur EU-Gelder bekommen, wenn sie die Rechtsstaatlichkeit respektieren.
DW: Sie haben gesagt, Ungarns Ministerpräsident baue eine "kranke Demokratie" auf. Viktor Orban fordert jetzt vehement Ihre Entlassung.
Vera Jourova: Ich werde nicht zurücktreten, das ist ganz klar. Die [EU-Komissions-]Präsidentin Ursula von der Leyen unterstützt mich. Aber ich will nochmal über dieses Interview sprechen, weil ich bestimmt mehrere hundert mal gesagt habe, dass wir uns Sorgen über die Entwicklungen in Ungarn machen. In diesem Fall habe ich einen anderen Begriff benutzt, um das Gleiche zu sagen. Also sollte das niemanden überrascht haben. Meine Kernaussage war, dass ungarische Staatsbürger das erste und letzte Wort haben. Sie müssen sich in ihren Wahlen frei entscheiden können. Und wir müssen garantieren können, dass in allen Mitgliedsstaaten, nicht nur in Ungarn, freie und gerechte Wahlen stattfinden. Ich habe großen Respekt vor dem ungarischen Volk und ich habe es noch nie beleidigt.
DW: Bis jetzt konnten Polen und Ungarn nicht dazu gezwungen werden, ihren Umgang mit der Rechtsstaatlichkeit zu ändern. Die beiden EU-Mitglieder wollen sogar ihr eigenes Rechtsstaatlichkeitsinstitut einführen, um der EU etwas entgegenzusetzen. Was bedeutet das für die Europäische Union?
Vera Jourova: Es stimmt nicht, dass wir nichts geschafft haben. Wir haben mehrere Vertragsverletzungsverfahren gestartet, die vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt wurden. Die Urteile sagen ganz klar: Wenn in einem konkreten Fall gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird, dann muss das korrigiert werden. Wir als Kommission gehen vor den Gerichtshof, weil er als einziger die EU-Gesetze auslegen darf. Und der Gerichtshof entscheidet. Das ist ein laufender Prozess.
Der Report, den wir heute veröffentlicht haben, ist eine Antwort auf die Kritik, wir würden uns nur auf Polen und Ungarn konzentrieren. Das stimmt nicht. Wir präsentieren jetzt einen Bericht, der positive und negative Entwicklungen in allen Mitgliedsstaaten beschreibt. Wo wir Fehlentwicklungen frühzeitig sehen, können wir auch frühzeitig einen Dialog beginnen, damit sich der jeweilige Mitgliedsstaat nicht allzu weit entfernt. Denn mancher Schaden ist irreparabel, fürchte ich.
DW: Welche Maßnahmen kann die Europäische Union ergreifen, wenn diese negativen Entwicklungen in Ländern wie Ungarn und Polen weitergehen?
Vera Jourova: Wir müssen fortsetzen, was wir bereits tun, und Mittel nutzen, die uns zu Verfügung stehen. Das sind die Vertragsverletzungsverfahren und Artikel 7, der schon im Einsatz ist. Jetzt haben wir neue Mittel, um die Rechtsstaatlichkeit zu bewerten und in allen Mitgliedsstaaten zu vergleichen. Aber ich werde auch nicht verhehlen, dass ich sehr dafür bin, EU-Gelder nur an Länder zu geben, die auch die Rechtsstaatlichkeit garantieren können. Natürlich müssen wir mehr machen. Es hat eine Naivität gegeben, dass Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte automatisch überall angewandt werden. Jetzt müssen wir dazulernen.