EU sucht Ausweg aus Flüchtlingskrise
13. September 2015Deutschland setzt das "Schengen-Abkommen" aus, das für einen Reiseverkehr ohne systematische Grenzkontrollen innerhalb der EU sorgt. Die Einführung der Kontrollen, zunächst mit einem Schwerpunkt an der Grenze zu Österreich, ist eine Art Notbremse, die im Schengen-Abkommen bei außergewöhnlichen Umständen oder Krisen vorgesehen ist. Die EU-Kommission teilte am Sonntagabend in Brüssel mit, "auf den ersten Blick" scheine "die derzeitige Lage in Deutschland von den Regeln des Schengen-Vertrages gedeckt" zu sein.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Sonntag dem Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, am Telefon mitgeteilt, dass sie Grenzkontrollen einführen werde, weil Deutschland mit der Aufnahme von mehreren tausend Flüchtlingen pro Tag überfordert sei. Außerdem müssten die Sicherheit an den Grenzen und ein geordnetes Verfahren wieder hergestellt werden.
Druck auf die EU-Innenminister
Juncker ließ erklären, das deutsche Vorgehen zeige, wie dringend es sei, dass sich die EU-Innenminister am Montag beim Sondertreffen in Brüssel auf die Vorschläge zur Lösung der Flüchtlingskrise einließen, die die EU-Kommission vorgelegt habe. Juncker hatte vergangenen Mittwoch im Europäischen Parlament die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen nach einem festen Verteilungsschlüssel vorgeschlagen.
Juncker wies darauf hin, dass die Reisefreiheit ein ganz entscheidendes Symbol des freien Europas sei. Diese Schengen-Zone ist jetzt in Gefahr. Auch Tschechien hat verstärkte Kontrollen angekündigt. Die Grenze zwischen Italien und Österreich wird schon seit Tagen stärker überwacht. "Es muss jetzt auf europäischer Ebene gehandelt werden", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière im deutschen Fernsehen. "Wir werden kämpfen."
Quote weiter umstritten
Wunder werden die 28 Innenminister der Europäischen Union auf ihrem Sondertreffen in Brüssel, das auf vier Stunden angesetzt ist, nicht vollbringen können. Eine plötzliche Umverteilung von Flüchtlingen über Nacht oder eine "Verlangsamung des Zustroms", wie sich de Maizière das wünscht, wird nicht einfach so zu beschließen sein. Mindestens vier der 28 Staaten - Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn - machen nicht mit. Der ungarische Ministerpräsident Victor Orban begründete sein Nein zu einer verpflichtenden Umverteilung in der "Bild"-Zeitung. Eine Quote für die Flüchtlinge, die bereits in Europa seien, habe erst dann Sinn, wenn die Außengrenzen der EU geschlossen würden. Außerdem könne niemand garantieren, dass die Flüchtlinge und Asylbewerber in dem Land blieben, in das sie geschickt würden. Für die deutschen Grenzkontrollen zeigte Orban Verständnis.
Deutschland und Frankreich sind für die Einführung einer Verteilungs-Quote. Einige Staaten wie Finnland, Litauen und Slowenien hatten sich nach der Juncker-Rede in Straßburg bereiterklärt, Flüchtlinge gemäß dem Verteilungsschlüssel zu übernehmen. Allerdings auf freiwilliger Basis, jede zwangsweise Zuweisung durch die EU-Kommission lehnte zum Beispiel der finnische Finanzminister Alexander Stubb ab.
Dauerhafte Verteilung würde "Dublin-System" vollends aushebeln
Die EU-Kommission hatte bereits im Mai einen Plan für eine Reform der Flüchtlings- und Asylpolitik vorgelegt. Danach hatten sich einige EU-Mitgliedsstaaten darauf geeinigt, rund 33.000 Flüchtlinge auf freiwilliger Basis innerhalb der EU umzusiedeln und 20.000 Syrer aus Lagern der Vereinten Nationen zu übernehmen. Geschehen ist bislang aber nichts. Erst an diesem Montag wird der Rat der Innenminister den Verordnungstext rechtlich verbindlich annehmen. Wann die Umverteilungspläne für weitere 120.000 Flüchtlinge in EU-Recht gegossen werden könnten, ist offen. Bislang berief sich die Kommission auf einen Notfall-Paragrafen in den europäischen Verträgen. Künftig will Juncker statt der Notfall-Regelung einen permanenten verbindlichen Verteilungsschlüssel durchsetzen.
Ein solcher Schritt würde das bislang geltende Recht, nach dem der Mitgliedsstaat der ersten Einreise für den Asylsuchenden zuständig ist, vollends aushebeln. Griechenland, das diese "Dublin-Regel" seit Jahren ignoriert, und Italien wären dafür. Ungarn ist allerdings dagegen, trotz der vielen Menschen, die derzeit über die serbisch-ungarische Grenze in die EU kommen. Ministerpräsident Orban kritisierte Griechenland scharf: "Dort werden die Außengrenzen der EU bereits seit Jahren nicht mehr geschützt. Würde Griechenland seinen Verpflichtungen nachkommen, hätten wir die ganze Flüchtlingskrise nicht. Weder in Berlin noch in Budapest."
Auch Deutschland ignoriert die Dublin-Regeln
Deutschland hatte die Dublin-Regel seinerseits außer Kraft gesetzt, weil Flüchtlinge und Asylbewerber ohne Beschränkung aufgenommen wurden, die zuvor bereits durch mehrere andere EU-Länder gereist sind. Kanzlerin Merkel begründete das mit den schlechten humanitären Zuständen in Ungarn. Wie sich die Kehrtwende vom Sonntag auf die Flüchtlingsrouten und die Zahlen auswirken werde, sei unklar, sagte der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann. "Wir wissen nicht, was in Österreich passieren wird." Eine Schließung der Grenzen zu Ungarn schloss Faymann zunächst aus. Tausende von Flüchtlingen und Asylbewerbern sind auf der Balkanroute und in Ungarn in Richtung Deutschland unterwegs. Am Dienstag will Ungarn die letzte Lücke im Grenzzaun zu Serbien schließen und die ungeordnete Einreise von Flüchtlingen unterbinden. Also genau das, was jetzt auch der deutsche Innenminister als Begründung für seine Maßnahmen angibt.
Hilfen für die Nachbarländer Syriens
Die Innenminister der EU wollen weitere finanzielle Hilfen für die Länder in der Nachbarschaft Syriens auf den Weg bringen, die die Mehrzahl der Flüchtlinge beherbergen. So soll eine Weiterreise syrischer Kriegsflüchtlinge zum Beispiel aus der Türkei verhindert werden. Österreich und einige andere Staaten machen sich dafür stark, in Griechenland ein "Aufnahme-Zentrum" im Hafen von Piräus zu bauen, um bereits dort über Asylanträge zu entscheiden. Die Vorbereitungen laufen, aber die Gespräche mit der griechischen Regierung befinden sich noch auf dem Niveau einer Arbeitsgruppe. Experten der EU-Grenzschutzagentur Frontex gehen davon aus, dass funktionsfähige Aufnahme-Zentren Tausende von Antragstellern beherbergen müssten. Sie seien nicht nur in Italien und Griechenland, sondern auch in der Türkei, Libyen, Niger und anderen Transitländern nötig.