EU streitet über Schengen-Privilegien russischer Diplomaten
1. September 2024Der tschechische Außenminister Jan Lipavsky sieht es so: Im dritten Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine führt Russland nicht nur einen asymmetrischen Krieg gegen Europa - Europa bietet dem Kreml auch noch asymmetrische Vorteile.
Prags Groll geht zurück auf das Jahr 2014, als zwei seiner Staatsbürger bei einer Explosion in einem Munitionslager in dem tschechischen Örtchen Vrbetice starben. Die tschechischen Behörden machen zwei Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU dafür verantwortlich. Vier Jahre später sollen es diese beiden Agenten gewesen sein, die im britischen Salisbury den ehemaligen sowjetischen Spion Sergej Skripal und seine Tochter vergiftet haben. Beide Male waren sie mit gefälschten, nicht-biometrischen Reisepässen unterwegs, was ihre Identifizierung entsprechend erschwerte.
Russische Staatsangehörige können mittlerweile nicht mehr ohne biometrischen Pass in die Tschechische Republik einreisen. Außenminister Lipavsky möchte, dass es die restlichen EU-Staaten seinem Land gleichtun, insbesondere angesichts der steigenden Zahl von Sabotageakten in Europa, die mutmaßlich nicht nur mit dem Kreml in Verbindung stehen, sondern von diesem auch gefördert werden.
"Wir wissen, dass die russischen Auslandsvertretungen an der hybriden Kriegsführung gegen Europa beteiligt sind", erklärt Lipavsky in einem Gespräch mit der DW. "Wir kennen so viele Fälle russischer Sabotage. Ich denke, die Berichte der Nachrichtendienste sind da sehr eindeutig."
Prag prescht vor
Die Tschechen wiederholen außerdem eine bereits vor neun Monaten an die EU-Partner gerichtete Forderung, die die Bewegungsfreiheit von Russen in der EU einschränken soll: Akkreditierten Diplomaten soll es nicht länger erlaubt sein, die Reisefreiheit im Schengen-Raum zu nutzen. Bislang dürfen sie neben dem Land, in das sie entsandt wurden, auch in andere Schengen-Länder reisen. Tschechischen Schätzungen zufolge verfügen über 3000 russische Auslandsvertreter und ihre Familienmitglieder in der EU über einen Diplomatenpass. "Es besteht keinerlei Verpflichtung für die EU-Länder, das Schengen-Privileg auf diese russischen Diplomaten auszudehnen", betont Lipavsky.
Doch nicht alle Regierungen teilen seine Meinung. In einem Schreiben an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell vom Juni hob der tschechische Außenminister hervor, dass die russische Aggression und die "geplanten Sabotageakte und Angriffe russischer Geheimdienste" eine dringende Erörterung der Schengen-Frage erforderten. Unterschrieben wurde der Brief jedoch nur von sieben weiteren Ministern - denen der baltischen Staaten, Dänemarks, der Niederlande, Polens und Rumäniens.
In seinem Brief betonte Lipavsky, dass Tschechien die bekannte "Angst vor Vergeltungsmaßnahmen" mit eingerechnet habe und "die Kosten einer möglichen Reaktion Russlands" als weitaus geringer einschätze als den möglichen Schaden, den russische Diplomaten beziehungsweise Agenten Europa zufügen könnten.
Viel Wirbel ohne den erwünschten Effekt
Es gibt Gegenargumente - und die kann Elisabeth Braw gut verstehen. Sie ist Verfasserin des Buchs "The Defender's Dilemma: Identifying and Deterring Gray-Zone Aggression" ("Das Dilemma des Verteidigers: Aggressionen in der Grauzone erkennen und abwehren"). "Russland würde garantiert sagen: Wenn europäische Länder die Visa für unsere Diplomaten annullieren, tun wir dasselbe", erläutert sie der DW. "So funktioniert Russland." Im Konflikt zwischen der EU und Russland würde sich rund um diese diplomatische Entscheidung eine neue Front entwickeln.
Die EU sollte nicht tolerieren, dass der Kreml seine Privilegien ausnutzt, meint Braw, die Sicherheitsexpertin beim US-amerikanischen Thinktank American Enterprise Institute ist. Allerdings sei der tschechische Vorschlag die Mühe nicht wert, denn der Effekt sei begrenzt: "Wenn die russische Regierung in der Europäischen Union Unfrieden stiften will, verfügen sie über andere Mittel als Diplomaten mit Reisefreiheit im Schengen-Raum."
Es sei ein "starkes Signal" an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, glaubt Braw, doch es würde die EU vermutlich viel Energie kosten, "herauszufinden, was getan werden kann und wie wir reagieren würden, wenn Russland darauf mit der Ausweisung unserer Diplomaten antwortet". Das würde von dem ablenken, was die Hauptaufgabe des Westens sein sollte: die Ukraine dabei zu unterstützen, den Krieg zu gewinnen.
Russland brockt der EU die Suppe ein
Braw teilt jedoch die tschechische Sorge über Russlands Möglichkeiten, in Europa für Chaos zu sorgen. "Eins muss man ihnen lassen, sie sind sehr vielseitig in ihren Aktivitäten und darin, wen sie in diese Aktivitäten einbeziehen", betont sie. Die zunehmende Zahl an Sabotageakten und hybriden Taktiken gäbe Anlass zu großer Sorge. "Ich vergleiche die schädlichen Aktivitäten Russlands gegen unsere Länder gerne mit dem Kochen einer Suppe: Sie nehmen einfach, was sie zur Hand haben, und wenn eine Zutat fehlt, nehmen sie eben etwas anderes."
Die Tschechen wollen weiterhin versuchen, den Russen ein paar dieser Zutaten zu nehmen. "Ich, meine Kollegen und meine Minister, wir werden weiter Lobbyarbeit leisten", bekräftigt Lipavsky. "Wir nutzen die verschiedenen diplomatischen Kanäle, um zu erläutern, wie wichtig eine solche Maßnahme ist."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.