Ärger und Frustration bei der EU-Spitze
4. November 2015Parlamentspräsident Martin Schulz war eigens aus Brüssel gekommen und der griechische Premier Alexis Tsipras gab den Reisenden Worte der Hoffnung mit: Am Athener Flughafen wurden die ersten 30 Flüchtlinge verabschiedet, die im Rahmen des EU-Umsiedlungsplans in ihre vorläufige neue Heimat flogen. Zielort für sie ist das kleine Luxemburg. Die Gruppe aus Syrern und Irakern ist Teil eines Kontingents von insgesamt 120.000 Flüchtlingen, die innerhalb von zwei Jahren aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten umgesiedelt werden sollen. Diese Umverteilung, zunächst auf freiwilliger Basis, war Ergebnis zähester Verhandlungen auf früheren Krisengipfeln. Allerdings: In dem Monat seit dem Beschluss gingen gerade einmal 116 Flüchtlinge auf die Reise. Wenn die EU so weitermacht, dauert es ungefähr 86 Jahre, bis nur dieser erste Plan umgesetzt ist.
Die EU Regierungen liefern nicht
Martin Schulz appellierte einmal mehr an die Mitgliedsländer: "Wenn nur so wenige EU-Länder (bei der Umsiedlung…) mitmachen, dann wird die Last für die anderen größer. Ich appelliere noch einmal an alle: Hier geht es um Solidarität zwischen Nationen, wir sollten Italien, Griechenland, Deutschland nicht allein lassen". Wer glaube, die Flüchtlingskrise sei ein Problem nur dieser Länder, liege falsch, fügte Schulz hinzu. Und: Man stehe noch am Anfang und habe die Probleme doch keinesfalls gelöst. Der Parlamentspräsident wiederholt sich, ähnliches sagt er immer wieder. Aber das ist nicht seine Schuld: Hartnäckig ziehen die EU-Mitglieder die Umsetzung gefasster Beschlüsse in die Länge.
Inzwischen mahnt auch Schweden. Premier Stefan Lövgen griff vor allem osteuropäische Länder wegen ihrer Weigerung an, muslimische Flüchtlinge zu akzeptieren: "Die EU muss diese Krise gemeinsam bewältigen. Zwei oder drei Länder können es nicht allein leisten". Schweden nimmt pro Kopf der Bevölkerung die höchste Zahl von Flüchtlingen in Europa auf, die sozialdemokratische Regierung steht deswegen innenpolitisch unter Druck.
Gummistiefel und Stromkabel
Am Mittwochnachmittag hält EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal mehr eine Telefonkonferenz mit Angela Merkel und ihrem österreichischen Kollegen Werner Faymann ab. Es geht darum, wie der Zustrom von Menschen über die Balkanroute angesichts des nahenden Winter gemeistert werden kann. "Es ist gut, dass Präsident Tusk die Regierungschefs eingeladen hat", erklärte Chefsprecher Margaritis Schinas zum erneuten Gipfeltreffen, damit man sehe, wie die verteilten Aufgaben erfüllt werden. Das ist Diplomatensprech, denn die Kommission weiß genau, wie schlecht es darum steht.
Zuvor hatte sie nämlich die kümmerlichen Hilfen veröffentlicht, die andere Mitgliedsländer inzwischen etwa für Slowenien, Kroatien oder Serbien geleistet haben. Diese Unterstützung war Ende Oktober versprochen worden, da ging es u.a. um winterfeste Zelte und anderen Bedarf für die Flüchtlinge an der Balkanroute. Eingetroffen sind inzwischen zum Beispiel 500 Paar Gummistiefel und 45 Stromkabel.
Genauso hapert es beim besseren Schutz der EU-Außengrenzen: Nichts scheint den Regierungschefs mehr am Herzen zu liegen. Allerdings: Von den versprochenen 775 Grenzschützern für Frontex sind weniger als die Hälfte zugesagt, nur eine Handvoll wurde tatsächlich schon entsandt. Auch die Asylagentur EASO wartet noch auf die versprochene Personalverstärkung, nicht einmal 50 Prozent der nötigen Beamten wurden bewilligt. Die Spitzen der EU müssen zunehmend fürchten, dass die Beschlüsse der Regierungschefs als folgenloses Gerede versanden, der Ruch der Untätigkeit aber an den Behörden in Brüssel hängen bleibt, obwohl weder Ratspräsident Tusk noch Kommissionschef Juncker die Pläne aus eigenen Mitteln umsetzen können.
Es fehlt Geld an allen Ecken
Donald Tusk versucht es inzwischen mit öffentlichem Schuldzuweisungen: In einem Rundschreiben legt er offen, wie viel der zusagten Mittel aus den EU-Hauptstädten in diversen Hilfsfonds noch fehlen. Besonders peinlich dabei der leere Unterstützungstopf zur Bekämpfung von Fluchtursachen in den afrikanischen Staaten, die man nächste Woche in Malta trifft: Erst 30 Millionen Euro sind eingegangen, das Ziel liegt bei 1,8 Milliarden. Auch der Krisenfonds für die Syrienhilfe ist weitgehend leer: 500 Millionen sind versprochen, nur 50 bisher eingetroffen. Und von der Milliarde Euro, die die EU bereits im September für den UNHCR und die Versorgung der Lager an den Grenzen Syriens versprochen hat, ist ebenfalls nur ein kleiner Teil eingetroffen.
Ratspräsident Tusk will seine Regierungschefs beim nächsten Treffen in Malta zur Kopfwäsche antreten lassen: "Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Flüchtlingskrise entwickelt, müssten sie jetzt den Stand der Umsetzung bereits gefasster Beschlüsse bewerten". Das könnte zu einer sehr peinlichen Tischrunde werden, wenn jeder Einzelne mit seinen gebrochenen Versprechen konfrontiert wird. Dem polnischen Ratspräsidenten geht erkennbar die Geduld aus: Er hat verstanden, ebenso wie sein Kollege Juncker in der EU-Kommission, dass die europäischen Institutionen sich selbst demontieren, wenn sie ihren Worten keine Taten folgen lassen.