EU sieht das Gespenst des Protektionismus
22. März 2006Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union stehen auf ihrem Brüsseler Gipfeltreffen am 23. / 24.3. vor ihrer ersten Grundsatzdebatte über die künftige Energiepolitik der Gemeinschaft. Der Gas-Streit zwischen der Ukraine und Russland sowie die anhaltend hohen Ölpreise haben der Gemeinschaft ihre Abhängigkeit von den großen Produzenten schmerzhaft vor Augen geführt. Die EU-Kommission hat ein Signal für eine gemeinsame Energiepolitik zu einem Erfolgskriterium des Gipfels erklärt. Bestrebungen der EU-Kommission, den grenzüberschreitenden innereuropäischen Energiemarkt stärker zu regulieren, stößt bei den Regierungschefs aber auf Ablehnung. Die Beratungen könnten von einer Kontroverse über die Abschottung großer nationaler Konzerne vor Übernahmen aus anderen Ländern überlagert werden.
Weit weg von den Zielen
Ein Gespenst geht um in Europa, sagen hohe EU-Vertreter, das Gespenst des Protektionismus. Er bedrohe die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents. Sechs Jahre, nachdem die Europäische Union sich in Lissabon vorgenommen hat, bis 2010 zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu werden, muss die EU sich eingestehen, dass sie weit hinter diesen so genannten Lissabon-Zielen zurückgeblieben ist. Kommissionspräsident José Manuel Barroso sieht wieder erstarktes nationales Denken als eine der Ursachen: "Wenn wir zusammenarbeiten, kann Europa die Herausforderungen der Globalisierung mit Zuversicht annehmen. Lassen Sie mich aber deutlich sagen: Das geht nur, wenn wir vereint auftreten. Kein Mitgliedsstaat, auch nicht der größte, kann es allein schaffen. Ökonomischer Nationalismus war nie eine Lösung und ist es heute noch viel weniger."
"Ist der Wille da?"
Ohne Namen zu nennen, hat Barroso dabei zweifellos vor allem Frankreich und Spanien im Blick. Beide Länder versuchen im Moment, Übernahmen von eigenen Energieunternehmen durch Firmen aus anderen EU-Ländern zu verhindern, unter offenem Bruch der Regeln des EU-Binnenmarktes. Barroso wünscht sich dagegen mehr Gemeinsamkeit gerade in der Energiepolitik und hämmert das den Staats- und Regierungschefs kurz vor dem Gipfel ein: "Mehr Europa ist die Antwort auf die Herausforderung. Ich hoffe, der Gipfel wird diese Frage beantworten: Ist der politische Wille vorhanden, eine europäische Lösung für europäische Probleme zu finden? Ist der Wille da, eine neue europäische Energiestrategie zu schaffen?"
Die Frage kann nicht unbedingt mit Ja beantwortet werden. Einige Regierungen wie die britische wollen auf keinen Fall weitere Kompetenzen an Brüssel abtreten, weder in der Energiepolitik noch anderswo. Aber auch die Deutschen wehren sich: Mit ihrem Pipeline-Projekt mit Russland gehen sie eigene Wege und stoßen Länder wie Polen vor den Kopf.
"Starkes Signal"
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erhofft sich von dem Gipfel aber auch Impulse für das wohl drängendste innenpolitische Problem, das gleichzeitig ein europäisches ist: die hohe Arbeitslosigkeit. Nach einem Gipfel-Vorbereitungsgespräch mit Barroso in Berlin sagte sie, der Frühjahrgipfel solle ein starkes Signal der Entschlossenheit senden, "dass wir entschlossen sind, die Probleme, die die Menschen bewegen, auch zu diskutieren, anzupacken und zu lösen. Und das bedeutet, dass wir uns vor allen Dingen mit dem Thema der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Dynamik beschäftigen werden."
Aber auch bei den Wegen hin zu mehr Beschäftigung gehen die Meinungen in Europa stark auseinander: Von den Befürwortern einer möglichst weitgehenden Liberalisierung bis zu denen, die ihre Arbeitsmärkte und Volkswirtschaften schützen wollen. Die Debatte darüber wird auch nach dem Gipfel nicht zu Ende sein.