Sacharow-Preis für Ilham Tohti
24. Oktober 2019Stellvertretend für Ilham Tohti nimmt seine Tochter Jewher den Sacharow-Preis für geistige Freiheit entgegennehmen. Der Uigure selbst wurde im September 2014 vom Mittleren Volksgericht in Ürümqi in der Autonomen Region Xinjiang nach einem zweitägigen Prozess wegen "Anstiftung zum Separatismus" zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das Europäische Parlament würdigt seine Bemühungen, "den Dialog und die Verständigung zwischen den Uiguren und den Völkern Chinas zu fördern."
"Mein Vater hat nie zu Gewalt und Separatismus aufgerufen", sagt Jewher Ilham, die in den USA lebt, im DW-Interview. "Er hat viele Probleme gesehen und glaubte, dass die Ursache in Unkenntnissen und der Ausweg im Dialog lag." Sie hoffe auf mehr Druck der EU auf China angesichts der Lage der Uiguren. Die Europäische Union sollte Sanktionen gegen chinesische und westliche Unternehmen erwägen, die Güter in mutmaßlichen Arbeitslagern in Westchina produzieren lassen.
Benachteiligung der Uiguren
Tohti wurde 1969 im kleinen Städtchen Artush in der westchinesischen Autonomen Region Xinjiang geboren. Zum Studium zog er aus der Provinz über Zwischenstationen nach Peking, wo er zu einem angesehenen Wirtschaftswissenschaftler avancierte. An der speziell für Studenten der Minoritäten Chinas errichteten Minzu-Universität in Peking forschte Tohti über mehrere Jahre über die soziale Lage der Uiguren in Xinjiang. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die Uiguren in Xinjiang in vielerlei Hinsicht gegenüber den dorthin gezogenen Han-Chinesen benachteiligt werden. Wiederholt kritisierte Tohti die Politik der Zentralregierung gegenüber den Uiguren.
Im Jahr 2006 gründete Tohti die Webseite "Uyghur online", die die Belange der Uiguren thematisieren sollte. Zwei Jahre später wurde die Seite von den chinesischen Behörden gesperrt und Tohti unter der Anschuldigung verhaftet, er würde den uigurischen Separatismus fördern. Anfang Juli 2009 brachen in der Provinzhauptstadt Ürümqi schwere Unruhen aus, über 150 Menschen starben, die meisten Han-Chinesen. Erneut wurde Tothi verhaftet, unter dem Vorwurf, die Aufstände angestachelt zu haben. Auf internationalen Druck hin wurde er wenige Wochen später wieder freigelassen.
Schuldspruch als Formsache
"Spannungen zwischen Han-Chinesen und Uiguren gab es schon früher", sagte Tohti im September 2009 nach den Unruhen gegenüber der DW, "aber sie haben sich nie zum gegenseitigen Hass ausgeweitet. Ich bin der Meinung, dass das Vertrauen zwischen der uigurischen Minderheit und den Han-Chinesen jetzt aber zerstört ist und der ethnische Hass mittlerweile eine feste Form angenommen hat. Wenn die Regierung in Peking das nicht unter Kontrolle bekommt und sich weiterhin wie ein Kolonialherr verhält, dann wird man Tragödien wie diese immer wieder erleben."
In der Folgezeit, in der es immer wieder zu blutigen Anschlägen und Auseinandersetzungen in Xinjiang kam, stand Ilham Tohti wiederholt unter Hausarrest. Nach seiner Festnahme in Peking im Januar 2014 wurde er ins 2500 Kilometer entfernte Ürümqi, Hauptstadt der Autonomen Region Xinjiang, gebracht, wo die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den damals 44-Jährigen erhob. Der Vorwurf lautete "Separatismus und Anstiftung zum Rassenhass." Der Schuldspruch war dann nach Ansicht westlicher China-Experten nur noch Formsache.
Mittler zwischen den Kulturen
Sie sehen den Vorwurf als konstruiert an. So sagte Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker gegenüber der DW: "Separatismus, also die gewaltsame Loslösung eines Staatsgebietes aus dem Gesamtstaat, war gerade das, was er nie betrieben hat. Er hat gesagt: 'Ich bin Uigure, aber ich lehre hier an der Minzu-Universität in der Hauptstadt und ich versuche, Mittler zwischen den Kulturen zu spielen. Das heißt, ich erkläre der Mehrheitsbevölkerung der Chinesen: Was sind denn die Anliegen der Uiguren? Warum sind die Uiguren so verärgert? Warum fordern sie ihre Menschenrechte ein und warum gibt man sie ihnen nicht? Warum wird das Autonomiegesetz in Xinjiang nicht umgesetzt?' Tohti war ein Anwalt und Mittler zwischen den Kulturen. Und gerade deshalb schien er in den Augen Chinas so gefährlich zu sein, dass man über Monate recherchiert und seine Studenten mehr oder weniger zu Aussagen gezwungen hat, um ihn hinter Gitter zu bringen."
Die China-Expertin Kristin Shi-Kupfer sah in dem hohen Strafmaß für Tohti ein klares Signal der chinesischen Führung an alle kritischen Geister im Lande: "Tohti war sehr gut vernetzt, auch mit Han-chinesischen Intellektuellen und Bürgerrechtlern, und nach seinen eigenen Angaben auch innerhalb des Führungsapparates mit Politikern auf unterschiedlichen Ebenen. Das kann beziehungsweise will die chinesische Zentralregierung nicht dulden. In dieser Hinsicht gibt es Parallelen zum Fall Liu Xiaobos - dieser war ähnlich vernetzt und hatte versucht, Allianzen mit moderaten Führungskräften innerhalb des chinesischen Staatsapparates und mit anderen Bürgerrechtlern in China zu schmieden", erläuterte die Expertin vom Berliner MERICS-Institut gegenüber der DW.
Rollenspiele im Gefängnis
Jewher Ilham sagte gegenüber der DW, Familienangehörige hätten ihren Vater bis 2017 alle drei Monate im Gefängnis besuchen dürfen, danach nicht mehr. Er habe stark abgenommen, aber mental einen stabilen Eindruck gemacht. Von jemandem, der Tohti im Gefängnis gesehen habe, habe sie erfahren, dass er in einer Einzelzelle sitzt, wo ein Fernsehgerät permanent Parteipropaganda sendet. Die Insassen des Gefängnisses würden manchmal Rollenspiele absolvieren, bei denen verschiedene Teams die Rollen von Parteikadern spielten. Tohti musste als Juror entscheiden, welches Team am überzeugendsten war.
Jewher Ilham teilte der DW mit, dass sich ihre Stiefmutter und ihre zwei jüngeren Brüder in Peking befinden. Ihre Stiefmutter versuche, soweit es geht, ein normales Leben zu führen und sich aus der Kontroverse herauszuhalten. Die Tochter sagt, dass ihre Kontakte mit anderen Familienmitgliedern in Xinjiang über Social Media unterbrochen wurden.
Bisherige Ehrungen
Tohti erhielt 2016 den Martin-Ennals-Preis für Verteidiger der Menschenrechte. Mit der Preisverleihung würdigen zehn bekannte Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, und die Schweizer Stadt Genf Personen, die sich "unter Inkaufnahme großer persönlicher Risiken" für die Verteidigung der Menschenrechte eingesetzt haben. 2017 wurde ihm der Menschenrechtspreis der Stadt Weimar verliehen, und 2019 der Vaclav-Havel-Preis durch die Parlamentarische Versammlung des Europarats.
Mitarbeit: Max Zander und William Yang.
Das ist eine aktualisierte Fassung vom 24.10.2019.