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Juncker sieht EU in schlechtem Zustand

Bernd Riegert9. September 2015

Mit schonungsloser Offenheit hat EU-Kommissionspräsident Juncker eine gemeinsame Flüchtlingspolitik gefordert. Über die ungewöhnliche Rede zur Lage der EU im Europa-Parlament berichtet Bernd Riegert aus Straßburg.

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EU Komissionspräsident Jean-Claude Juncker bei seiner Rede im Europäischen Parlament (Foto: Getty Images/AFP/F. Florin)
Bild: Getty Images/AFP/F. Florin

Jean-Claude Juncker trat mit ernster Miene ans Rednerpult. Die sonst üblichen Witzchen, mit denen er seine Reden normalerweise würzt, ließ er weg. In seiner Rede zur Lage der Europäischen Union malte Juncker ein düsteres Bild: "Die Union ist einem schlechten Zustand." Es fehle der EU mit Blick auf die Flüchtlingskrise sowohl an europäischem Geist als auch an Einigkeit. "Und das müssen wir jetzt ändern", forderte der Kommissionspräsident von den 28 Mitgliedsstaaten der EU.

Juncker wirkte im schwarzen Anzug bedrückter und angespannter als üblich, nicht nur weil die EU ihm Sorgen macht, sondern auch weil er um seine vor drei Tagen verstorbene Mutter trauert. Zugleich ist sein Vater schwer erkrankt. Viele Parlamentarier dankten Juncker dafür, dass er trotz seiner schwierigen persönlichen Situation nach Straßburg gekommen ist, um seine Amtspflichten zu erfüllen. "Meine Mutter und mein Vater haben immer hart gearbeitet, deshalb arbeite ich auch weiter", sagte Juncker vor Journalisten mit den Tränen kämpfend.

Verbindlicher Verteilungsschlüssel

Bei den nationalen Regierungen sieht Juncker die Schuld für die Zuspitzung der Flüchtlings-Krise. Gegenseitige Schuldzuweisungen müssten aufhören, jetzt seien mutige Entscheidungen gefragt. Die EU-Kommission schlägt deshalb ein ganzes Bündel von Gesetzen und Maßnahmen vor, um die eigentlich schon im Mai vorgelegte gemeinsame Migrationspolitik voranzutreiben.

Jean-Claude Juncker sprach sich für einen permanenten Mechanismus zur Verteilung von Flüchtlingen und Asylbewerbern auf alle Mitgliedsstaaten aus. Das bisher geltende "Dublin-System", nach dem der Mitgliedsstaat der ersten Einreise für den Asylbewerber sorgen muss, sei nicht mehr zeitgemäß und biete zu wenig Europa. "Die Solidarität in Europa ist zu schwach. Italien, Griechenland und Ungarn dürfen nicht ganz alleine die Last tragen", sagte Juncker unter Beifall der Abgeordneten.

EU Juncker PK nach der Rede im Europaparlament
Mitgliedsstaaten der EU müssen mitziehen: Jean-Claude Juncker bei seiner Pressekonferenz in StraßburgBild: DW/B. Riegert

Europa hat eine Pflicht gegenüber Flüchtlingen

Juncker forderte die Mitgliedsstaaten auf, sich am kommenden Montag als erste Notfallmaßnahme auf eine verbindliche Umsiedlung von 160.000 Flüchtlingen aus den drei Ländern zu einigen. Am Montag treffen sich die Innenminister der EU zu einer Sondersitzung in Brüssel. Ein erster Anlauf, im Juni 40.000 Flüchtlinge zu verteilen, scheiterte allerdings am Widerstand vor allem der osteuropäischen Mitgliedsstaaten, Großbritanniens und Spaniens. Deshalb appellierte Juncker leidenschaftlich an das Gewissen der Europäer. Sie sollten stolz darauf sein, dass so viele Menschen in der ganzen Welt Europa als das sehen, was es sei: Ein Hort an Frieden, Stabilität und Wohlstand.

Der Kommissionspräsident erinnerte daran, dass bis in die jüngste europäische Geschichte hinein, Millionen von Europäern Flüchtlinge, Migranten und Auswanderer waren. Europa sei als Ganzes in der Flüchtlingskrise nicht überfordert, sagte Juncker an die Adresse der Zwischenrufer und Kritiker im Parlament. "Wir haben die Mittel. Wir haben die Pflicht, die Menschen aufzunehmen." Die Flüchtlingskrise werde so lange andauern, wie es die Fluchtursachen, nämlich Kriege und Diktatur in der Nachbarschaft Europas gebe. "Zäune und Mauern werde diese Menschen nicht aufhalten. Sie werden alles riskieren, um der Barbarei des Islamischen Staates zu entfliehen."

Deutschland Flüchtlinge Bahnhof München (Foto: Sven Hoppe/dpa)
Vorbild oder Fehler: Ankunft von Flüchtlingen in München, nachdem Deutschland die Regeln vorübergehend ausgesetzt hatBild: picture-alliance/dpa/S. Hoppe

Schuld liegt bei den Mitgliedsstaaten

Der Chef der EU-Kommission schlägt eine Liste mit sicheren Herkunftsstaaten vor, um politisch Verfolgte von Wirtschaftsmigranten schneller unterscheiden zu können. Auf dieser Liste stehen für alle EU-Staaten verbindlich auch alle Westbalkan-Staaten und die Türkei. Die Menschen aus diesen Ländern hätten weiter ein Recht auf ein Asylverfahren, nur könnten die wesentlich schneller ablaufen als heute, versicherte Jean-Claude Juncker.

Gemeinsame Kriterien und Verfahren für die Asylgewährung gibt es in Europa bereits. Daran erinnerte Juncker und forderte die Mitgliedsstaaten auf, sich an dieses geltende Recht auch zu halten. Gegen zahlreiche Staaten, die Flüchtlinge nicht richtig versorgen oder immer noch keine leistungsfähige Verfahren vorweisen können, hat die EU-Kommission 32 Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

Die EU müsse ihre Grenzen gegen illegale Einwanderer besser schützen, zum Beispiel mit einer gemeinsamen Grenzschutztruppe, forderte Juncker. Gleichzeitig müssten mehr legale Wege zur Einwanderung von jungen und talentierten Menschen geöffnet werden. Die EU brauche Einwanderung. Dies sei aber natürlich keine Antwort auf die aktuelle Flüchtlingskrise.

Kritiker: "Wir sind verrückt"

Die Parlamentarier in Straßburg blieben skeptisch. Die Vorschläge zur gemeinsamen Asylpolitik seien zwar zu begrüßen, sagte der Chef der liberalen Fraktion, Guy Verhofstadt, aber es fehle der politische Wille der Mitgliedsstaaten. "Manche Mitgliedsstaaten wollen in fünf Jahren 20.000 Flüchtlinge aufnehmen. München hat in fünf Tagen 20.000 Flüchtlinge aufgenommen." Das zeige die unterschiedlichen Ansätze innerhalb der Union.

Konservative und Sozialisten lobten die Vorschläge Junckers. Die Europaskeptiker hingegen feuerten verbale Breitseiten ab. Nigel Farage von der britischen Unabhängigkeitspartei warf der EU vor, sie nehme jetzt praktisch jeden auf, der seinen Fuß auf europäischen Boden setze. "Deutschland hat das noch übertroffen, indem es sagt, jeder kann kommen", kritisierte Farage. Die meisten Asylbewerber seien illegale Einwanderer. Der Islamische Staat nutze diesen Weg, um seine Terroristen nach Europa zu schleusen. "Wir sind doch verrückt, das auch noch zu fördern", sagte Farage.

UKIP-Politiker Nigel Farage (Foto: Britta Schultejans/dpa)
Rechtspopulist Farage will keine EinwanderungBild: picture-alliance/dpa/B. Schultejans

EU-Kommissionspräsident Juncker trat Kritik an einem europäischen Asylsystem energisch entgegen. Europa, das seien nicht die Flüchtlinge, die auf Kos ohne Versorgung seien. Europa, das seien nicht brennende Asylbewerberheime in Deutschland. "Europa sind die Menschen, die auf dem Münchner Bahnhof klatschen, um Flüchtlinge zu begrüßen. In diesem Europa möchte ich leben." Die Debatte im Europäischen Parlament habe ihm trotz seiner schwierigen familiären Situation Spaß gemacht, sagte Juncker abschließend, "abgesehen von den rechtsradikalen Idioten", die sich mit Zwischenrufen meldeten.