EU-Innenminister: Italien bleibt auf sich gestellt
6. Juli 2017Allein in der letzten Juni-Woche sind mehr als 10.000 Migranten aus Afrika über die Mittelmeerroute nach Italien gekommen, seit Beginn des Jahres sind es rund 85.000. Die Ankündigung der Regierung in Rom, man werde die Häfen für Flüchtlingsschiffe schließen, stößt daher auf der Konferenz der Innenminister der Europäischen Union (EU) im estnischen Tallinn auf großes Verständnis: "Wir müssen Italien unterstützen, sie sind in einer schwierigen Lage", sagten EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos und mehrere Innenminister in fast identischem Wortlaut.
Aber damit ist die Solidarität auch schon fast erschöpft: Niemand will Rom weitere Flüchtlinge abnehmen oder gar eigene Häfen für die Rettungsschiffe öffnen.
Verhaltenskodex für NGOs
Immerhin haben die Innenminister dem Verhaltenskodex zugestimmt, der bald für die freiwilligen Retter im Mittelmeer gelten soll. Italien hat vorgeschlagen, ein verbindliches Regelwerk für Seenotretter einzuführen und soll es auch ausarbeiten.
Ziel ist es, den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Fahrt in libyschen Gewässern, besonders in Küstennähe, zu erschweren und zu verhindern, dass sie Kontakt zu Schleppern aufnehmen. Zur besseren Kontrolle über die Arbeit der Helfer, sollen sie zum Beispiel verpflichtet werden, jederzeit die Positions-Transponder ihrer Schiffe eingeschaltet zu lassen, gerettete Flüchtlinge direkt in einen Hafen zu bringen und der Polizei jederzeit Zugang zu ihren Schiffen gewähren.
Hinter dem Auflagenkatalog steht der Vorwurf - nicht nur der italienischen Regierung -, die NGOs würden Flüchtlinge geradezu anregen, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Mit ihrer Hilfe unterstützten sie somit faktisch das Geschäft der Schlepper.
Seenotretter unter Verdacht
Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière gibt den Rettern eine Mitschuld an den steigenden Zahlen: "Wenn der Transponder bewusst ausgeschaltet wird, um den Standort zu verschleiern, dann erweckt das kein Vertrauen. Oder wenn Schiffe im libyschen Gewässer ihre Scheinwerfer anschalten und genau in dem Moment werden auch Flüchtlinge losgeschickt, dann ist das das Gegenteil von 'Schleusern das Handwerk' legen". Genau solches Verhalten soll durch den neuen Verhaltenskodex ausgeschlossen werden.
Vertreter der Seenotretter ihrerseits widersprechen den Vorwürfen vehement. Und Amnesty International wirft im Gegenzug der EU vor, sie habe einen Großteil der Seenotrettung auf NGOs abgewälzt, und sei durch eigene Untätigkeit mit Schuld am Tod der mehr als 2000 Migranten, die in diesem Jahr bereits im Mittelmeer ertrunken sind. Rund 40 Prozent aller Rettungsaktionen werden von den freiwilligen Helfern durchgeführt, heißt es bei Frontex, der Grenz- und Küstenschutzagentur der EU.
Mehr Zusammenarbeit mit Libyen
Ungeachtet der chaotischen und unsicheren Lage in Libyen versucht die EU weiter, mit einem Teil der dortigen Behörden zusammenzuarbeiten. Etwa die Hälfte der mehr als 90 Millionen Euro, die der Staatenbund zur Bewältigung der Flüchtlingskrise auf der Mittelmeerroute aufwendet, sollen zur weiteren Bewaffnung und Ausbildung der libyschen Küstenwache ausgegeben werden.
Bundesinnenminister de Maizière forderte, die libysche Seite müsse Menschenrechtsstandards einhalten, und die dortigen Lager müssten mit Hilfe des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) gegen Übergriffe gesichert werden. Denn politische Absicht ist, Flüchtlinge vom Mittelmeer möglichst nicht mehr nach Italien zu, sondern direkt nach Libyen zurück zu bringen.
Bisher allerdings berichten Hilfsorganisationen wie Oxfam von Folter, Vergewaltigungen und Tötungen aus libyschen Lagern. "Die Zusammenarbeit mit Libyen, damit Flüchtlinge nicht mehr nach Europa kommen, setzt diese Menschen nur noch größerem Leid bis hin zum Tod aus und ist ein ernster Schlag gegen europäische Werte", sagt Natalia Alonso von Oxfam.
Seit die EU aber Anfang des Jahres die Zusammenarbeit mit Libyen zu einem Pfeiler ihrer Flüchtlingsstrategie machte, versucht sie unabhängig von der Sicherheitslage eine Lösung mithilfe der dortigen Teil-Regierung voranzutreiben.
Mehr Rückführungen
Einer der wenigen konkreten Fortschritte in der verfahrenen Flüchtlingspolitik ist die Absicht, künftig mit Drittländern zu verhandeln. Dabei sollen alle Mittel eingesetzt werden, von Subventionen bis zur Visavergabe, um unwillige Staaten zur Rücknahme ihrer Bürger zu bewegen. Derzeit stehen Bangladesch und Nigeria an der Spitze der Herkunftsländer, gefolgt von weiteren westafrikanischen Ländern.
Auch Italien sagt die EU weitere Millionen zu, allerdings ebenfalls verbunden mit Forderungen: schnellere Bearbeitung von Asylanträgen, mehr Rückführungen, Verbesserung der Aufnahmekapazitäten. Dazu gehört auch die Aufstellung einer Liste sicherer Herkunftsländer, um mehr Abschiebungen zu ermöglichen.
Es fehlt die Solidarität
Frankreich und Spanien lehnten es schon bei einem Vorbereitungstreffen ab, ihre eigenen Häfen für Flüchtlingsschiffe zu öffnen. Genauso wenig gibt es Freiwillige für die Aufnahme weiterer Migranten, und auch die bereits vereinbarte Umverteilung stockt: Erst 7000 der rund 35.000 in Italien aufgenommenen Flüchtlinge wurden von anderen EU-Ländern übernommen.
Als Gewissen Europas trat einmal mehr Jean Asselborn auf: "Mir graut vor Aussagen wie: Wir müssen die Mittelmeerroute schließen. Und das heißt, die Menschen nicht mehr zu retten? Wie schließt man das Meer?" Luxemburgs Außen- und Flüchtlingsminister kritisierte darüber hinaus die Ankündigung Österreichs, Panzerfahrzeuge und Soldaten zur Abwehr von Migranten aus Italien einzusetzen: "Das zeugt nicht gerade von Solidarität. Wir müssen Italien unterstützen. Das heißt wir müssen europäisch an die Sache herangehen."
Aber hier überwiegen in der EU die nationalen Interessen: "Die Positionen liegen beim Thema Solidarität weit auseinander", brachte es Bundesinnenminister de Maizière auf den Punkt. Und die zentrale Diskussion über eine gemeinsame europäische Asylpolitik, die eigentlich im Herbst vorgestellt werden soll, steckt völlig fest.