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Die Wurzel und die Toten

21. Juni 2007

Die Vorzeichen für den EU-Gipfel sind nicht die Besten. In der Diskussionen um die Stimmgewichtung überraschte Polen mit einem neuen Vorschlag: Die Berücksichtigung der Opfer des Zweiten Weltkriegs.

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Die Brüder Jaroslaw (l) und Lech Kaczynski (Archiv 2005), Quelle: dpa
Immer für Überraschungen gut: Die Kaczynski-BrüderBild: picture-alliance/ dpa

In Brüssel kursiert wieder einmal die Hemdenfrage: "Ich habe zwei im Gepäck", meint ein EU-Diplomat und signalisiert damit: Es gibt zähe Verhandlungen, die sich bis zum Samstag hinziehen können. "Es wird wohl länger dauern als üblich" – der Standardkommentar zum Auftakt des Mammuttreffens der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag (21.6.).

Die Fahnen von Deutschland, der Europäischen Union (EU) und von Polen wehen am deutsch-polnischen Grenzübergang in Frankfurt, Quelle: dpa
Der Verfassungstreit geht weiterBild: picture-alliance/ dpa

In den Vorgesprächen beriet Bundeskanzlerin Angela Merkel zunächst mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso über den Stand der Verhandlungen. In einer Serie von Telefonaten mit Staats- und Regierungschefs hatte die Kanzlerin zuvor noch von Berlin aus letzte Kompromisslinien zur Lösung der EU-Verfassungskrise ausgelotet. In der deutschen Delegation wurde davor gewarnt, den Streit mit Polen über das künftige Abstimmungsverfahren in der EU als einziges Streitthema anzusehen. "Es gibt eine ganze Reihe von harten Nüssen zu knacken", wurde betont.

Weltkriegsopfer berücksichtigen

Die letzte harte Nuss bescherte Polens Regierungschef Jaroslaw Kaczynski erst am Morgen, indem er mit einem neuen Rechenmodell in Sachen Stimmgewichtung überraschte: Auch die polnischen Bevölkerungsverluste im Zweiten Weltkrieg sollten einberechnet werden. "Wir verlangen nur, was uns genommen wurde", forderte er in einem Rundfunkinterview. "Wenn Polen nicht die Jahre 1939 bis 1945 durchgemacht hätte, hätte es heute eine Bevölkerung von 66 Millionen, wenn man demographische Kriterien anwendet."

Polen droht mit einem Veto, falls die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nicht auf die Forderung nach Änderung des Abstimmungsverfahrens eingeht. Polen will selbst mehr Gewicht zu Lasten großer Staaten wie Deutschland und hatte zunächst die Berechnung der Stimmen nach der Quadratwurzel aus der Bevölkerungszahl vorgeschlagen.

Briten bleiben hart

Britischer Premierminister Tony Blair, Quelle: AP
Bleibt hart: Tony BlairBild: AP

Immerhin ist jetzt die polnische Vertretung in Brüssel geklärt: Präsident Lech Kaczynski nehme an dem Treffen teil, teilte sein Büro am Morgen mit. Polen hatte bis zuletzt offen gelassen, ob der Präsident oder sein Zwillingsbruder, Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, nach Brüssel reisen würde. "Wenn die Dinge schlecht laufen, fahre ich selber hin", hatte der Regierungschef im Radio gesagt, "Wenn es eine Aussicht auf Erfolg gibt, fährt der Präsident."

Auch die Briten haben unmittelbar vor dem EU-Gipfel mit einem Veto gegen den von der deutschen Ratspräsidentschaft gewünschten Reformvertrag gedroht. Premierminister Tony Blair werde den Verhandlungstisch verlassen, wenn seine Forderungen nicht erfüllt würden, erklärte sein Sprecher am Donnerstagmittag. Merkel will die im Jahr 2000 beschlossene Bürgerrechtscharta rechtsverbindlich machen. London hingegen fürchtet eine Einmischung der EU in seine Arbeits- und Sozialgesetzgebung.

Schlechte Aussichten für den EU-Außenminister

Der luxemburgische Ministerpräsident und Finanzminister Jean-Claude Juncker (Archiv), Quelle: dpa
Errinert sich mit Grauen an Nizza: Jean-Claude JunckerBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Die Niederlande verlangten weiterhin ein Vetorecht für nationale Parlamente und schärfere Kriterien bei der Aufnahme neuer EU-Mitglieder. Auch sollen öffentliche Dienstleistungen nicht der strengen EU-Kontrolle unterliegen. Tschechien wiederum fordert in dem neuen EU-Vertrag verbindliche Zusagen, dass EU-Kompetenzen in die nationale Verantwortung zurückverlagert werden können. Der Ausdruck "Verfassung" wird voraussichtlich gar nicht verwendet, auf die Nennung von Fahne und Hymne wird verzichtet und die Passage zum Europäischen Außenminister hat Merkel in ihrem Entwurf mit "ÄXXXÜ" markiert – diese Frage ist offener denn je, denn Großbritannien, die Niederlande, Polen und Tschechien fürchten einen Verlust ihrer außenpolitischen Souveränität.

Dennoch gibt sich Angela Merkel zum Auftakt des Gipfels optimistisch: "Ich hoffe, dass wir in einem guten Geist arbeiten werden und dass wir ein faires Übereinkommen bekommen", sagte sie. Nach Einschätzung von Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker stehen die Chancen für eine Einigung bei dem Gipfel bei 50 zu 50 und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso machte Treffen deutlich: "Wir müssen die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union stärken." Mit derzeit 27 Staaten könne die Union nicht mehr die selben Regeln haben wie mit zwölf Staaten, also vor dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens 1995.

Reicht das Essen?

Der am späten Nachmittag beginnende Gipfel weckt bei Vielen Erinnerungen an die Konferenz von Nizza 2000: Sie dauerte vom 7. bis 11. Dezember 2000 und war die längste der EU-Geschichte. Regierungsvertreter und Diplomaten denken mit Grauen an die Schlacht um Macht und Einfluss in den EU-Institutionen zurück. Dem Catering gingen am Ende Teller und Speisen aus und Jean-Claude Juncker erinnert sich: "Wenn Nizza jeden Tag stattfände, wären wir schnell wieder in alten Gefechtslagen - wenn auch ohne scharfe Munition." (ina)