EU-Gipfel sucht Putin-Strategie
20. Oktober 2016Nach ihrem Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Vorabend werden der französische Präsident François Hollande und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den übrigen Teilnehmern des EU-Gipfels in Brüssel aus erster Hand berichten können, welchen Eindruck sie vom Kreml-Herrscher haben und was seine Ziele sein könnten. Zu kleinen Kompromissen im Ukraine-Konflikt bereit, mauern in Syrien?
Beim Abendessen wollen die EU-Granden sich ganz dem Thema Russland und einem strategischen Konzept für den Umgang mit diesem "schwierigen, aber wichtigen" Partner suchen, wie es aus der deutschen Delegation vorab hieß. Das Thema steht schon seit dem letzten Gipfeltreffen im Juni auf der Tagesordnung, erhält aber durch Russlands Rolle im Syrien-Konflikt aktuelle Brisanz.
Die EU-Staats- und Regierungschefs werden sich darüber unterhalten müssen, ob sie Russland noch wie früher als "strategischen Partner" für die Lösung vieler Krisen ansehen oder eher als Gegner, der aggressiv versucht, seine Interessen in der Ukraine, in Georgien oder im Nahen Osten durchzusetzen.
Die Meinungen sind da durchaus geteilt. Ungarn zum Beispiel wünscht sich bessere wirtschaftliche Beziehungen zu Russland und eine Lockerung der Sanktionen. Deutschland hält Russland nach Angaben aus Regierungskreisen für "einen strategischen Partner, mit dem man zusammenleben will und muss." Strategisch bedeute nicht, dass die Partnerschaft auch leicht sei.
Schulz: Russland verhält sich inakzeptabel
Der Präsident des Europäischen Parlament, Martin Schulz, sagte der Deutschen Welle, die Politik Russlands sei in vielen Bereichen auf keinen Fall akzeptabel. "Hinter den Aggressionen steckt ein völliges anderes Konzept der Gesellschaft, eine komplett andere Sicht auf die Welt, als die, die wir in Europa haben", sagte Schulz.
Deshalb müsse die Botschaft der EU an Putin sein, dass Europa mit ihm nicht übereinstimme. "Wir sind hart in unserer Gegenstrategie, aber die Tür zu Verhandlungen bleibt offen, falls Russland zurückkehren will."
Noch keine neue Sanktionen
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte neue Sanktionen gegen Russland nicht ausgeschlossen - wegen der Bombardierung der syrischen Stadt Aleppo. "Diese Option ist weiter auf dem Tisch auch nach dem Gipfel. Konkrete Beschlüsse sind derzeit in Brüssel nicht geplant", sagte ein EU-Beamter, der mit den Vorbereitungen des Treffens vertraut ist. Im Entwurf der Gipfelerklärung heißt es nur, dass die EU "alle Möglichkeiten erwägt, zu denen auch weitere restriktive Maßnahmen gegen diejenigen gehören, die das (syrische) Regime unterstützen."
Nur wenige EU-Staaten sind im Moment wohl bereit, so weit wie der französische Präsident zu gehen und der Führung in Moskau Kriegsverbrechen im Syrien-Konflikt vorzuwerfen. "So weit sind wir noch nicht", hieß es von einem osteuropäischen Diplomaten in Brüssel.
Die EU kritisiert Wladimir Putin nicht nur wegen dessen Vorgehen in der Ostukraine, der Annexion der Krim und der Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien, sondern auch wegen zunehmender Cyber-Angriffe auf westliche Computer-Systeme und Propaganda-Attacken. Auch mit dieser Bedrohung wollen sich die Staats- und Regierungschefs beschäftigen. Gleichzeitig sind die EU und Russland bei der Gas- und Ölversorgung voneinander abhängig, haben also starke wirtschaftliche Interessen.
Zuwanderung: Problem außerhalb der EU lösen
Das zweite wichtige Thema des Herbstgipfels ist die Migration, also die Zuwanderung von Flüchtlingen, Asylbewerbern oder verarmten Menschen. "Hier geht es vielen EU-Staaten darum, das Problem möglichst außerhalb Europas zu lösen", beschreibt ein EU-Diplomat die Stoßrichtung des Gipfeltreffens.
Der Deal mit der Türkei, die Flüchtlinge aus Syrien und Asylbewerber aus anderen Regionen zurücknimmt und zurückhält, gilt dem deutschen Innenminister Thomas de Mazière zum Bespiel als "Modell", wie er in der vergangenen Woche beim EU-Ministerrat betonte. Dieses aus Sicht der EU erfolgreiche Modell, das Hilfsorganisationen aber heftig kritisieren, soll nun als Blaupause für sogenannte "Migrationspartnerschaften" mit fünf afrikanischen Ländern dienen.
Niger, Mali, Senegal, Nigeria und Äthiopien sollen nach den Vorstellungen der EU mit dafür sorgen, dass Migranten gar nicht erst die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer nach Italien versuchen. Dafür sollen diese Staaten mit EU-Geldern und Förderprojekten belohnt werden. Für jeden Staat soll ein Abkommen maßgeschneidert werden. "Damit soll der Anreiz genommen werden, überhaupt noch nach Europa zu fliehen", heißt es dazu aus deutschen Regierungskreisen. 131.000 Menschen sind 2016 bislang in Italien angekommen, fast so viele wie im Vorjahr.
Schwierige Partner-Wahl
Dabei konzentriert sich die EU bei der Auswahl der "Migrationspartner" auf das Machbare, meinen EU-Diplomaten. Mit Nigeria ist das Land bei den Verhandlungen dabei, aus dem 2016 die meisten afrikanischen Migranten kamen. Eritrea, Sudan, Gambia und die Elfenbeinküste, die auf der Liste der Herkunftsländer folgen, sind aber keine Verhandlungspartner für die Europäer.
"Sie brauchen ja auch immer jemanden, mit dem sie sprechen können, der verhandeln will", sagt dazu ein EU-Beamter. Das sei bei manchen afrikanischen Herkunfts- und Transitländern eben schwierig, aber man arbeite daran. "Unsere Aufgabe ist es jetzt, langfristig die Art und Weise zu verändern, wie wir Migration und Wanderungen mit unseren Partnern in Afrika und der Nachbarschaft lenken", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kurz vor dem Gipfeltreffen.
Die Idee des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, im Haupttransitland Libyen riesige Auffanglager für Flüchtlinge zu bauen, unterstützen nur Österreich und einige wenige Kollegen und Kolleginnen im Kreis der Gipfelteilnehmer. Die Sicherheitslage in Libyen sei dafür einfach zu unsicher.
Im Prinzip aber sollen auf lange Sicht Migranten, die auf hoher See von europäischen Grenzschützern gerettet werden, gleich nach Nordafrika zurückgebracht werden und nicht erst nach Italien gelangen. Das hatten bereits die Innenminister der EU in der vergangenen Woche befürwortet, auch um das Geschäftsmodell der Schlepperbanden zu untergraben. Die Zeichen stehen also eher auf Abschreckung oder Abschottung.
Griechenland soll liefern und fordert Hilfe
Dass die Vereinbarung mit der Türkei zur Flüchtlingsrücknahme derzeit vor allem auf der EU-Seite nicht richtig funktioniert, sehen die EU-Staats- und Regierungschefs ein. Deshalb soll Griechenland aufgefordert werden, seine Asylverfahren auf den Ägäis-Inseln zu beschleunigen und schneller Menschen in die Türkei abzuschieben.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras, der diese Aufforderung am Donnerstag nicht zum ersten Mal hören wird, wird wieder antworten: Die EU müsse mehr Personal schicken und mehr abgelehnte Asylbewerber vom griechischen Festland in andere Staaten umsiedeln. Diese sogenannte "Relocation" läuft trotz vieler Versprechen immer noch sehr langsam, wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex angibt. Ungarn und Tschechien lehnen sie trotz eines Mehrheitsbeschlusses der EU sogar strikt ab.