EU-Flüchtlingspolitik: 2020 ist nicht 2015
3. März 2020"Wir schaffen das!", hieß im August 2015 die Parole von Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts steigender Flüchtlingszahlen. Kurz danach, am 4. September, wurde die massenhafte Einreise von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten über Ungarn und Österreich nach Deutschland für einige Wochen möglich. Kritik daran, dass nicht registrierte Menschen über die Balkanroute kamen, wies Angela Merkel einige Tage nach ihrer Entscheidung noch so zurück: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
Heute klingt das anders: Die Ereignisse von 2015, also der Zuzug von knapp 900.000 Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten nach Mitteleuropa, dürften sich nicht wiederholen, lautet nun das Leitmotiv der Bundesregierung. Der "Kontrollverlust" von damals dürfe sich nicht wiederholen, sagt die Kanzlerin heute. Angesichts der Entwicklung an der türkisch-griechischen Grenze, wo Tausende Menschen gestrandet sind, spricht Merkel nun von einer "Sackgasse", in der die Flüchtlinge und Migranten steckten. Eine "Notsituation" wie im Sommer 2015 in Budapest, als dort im Bahnhof Tausende ausharrten, sieht sie offenbar nicht.
2020 ist nicht 2015 - oder doch?
Was hat sich geändert in diesen fünf Jahren? Die Europäische Union setzt heute viel stärker als 2015 auf eine Abschottung ihrer Außengrenzen. Immer und immer wieder haben die Staats- und Regierungschefs beschlossen, die Grenzen für Flüchtlinge und Migranten undurchlässiger zu machen. Bei einem Gipfeltreffen im Juni 2018 wurde die Abwehr und Abschottung zum Ziel der gemeinsamen Migrationspolitik erhoben. Deshalb ist die Schließung der Grenze durch Griechenland konsequent. Der Fraktionschef der christdemokratischen Parteien, Manfred Weber (CSU), hält auch den Einsatz von Tränengas gegen manche Einreisewillige für gerechtfertigt. "Die Außengrenze muss geschützt werden", sagte Weber im ARD-Fernsehen. Wenn Flüchtlinge Steine werfen, dann sei auch der Einsatz von Tränengas gerechtfertigt. Im Übrigen sei der türkische Präsident Erdogan Schuld an der Lage, weil er die Menschen mit Bussen an die Grenze bringen lasse.
Da gibt es eine Parallele zu Ereignissen im September 2015. Damals ließ der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, die Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze zu Österreich bringen und setzte Österreich und Deutschland so unter Zugzwang. 2020 setzt der türkische Präsident Erdogan die Flüchtlinge in Busse. Er missbraucht sie als politisches Druckmittel.
Heute fällt die Antwort aber anders aus als 2015: Die Kontrolle über die Grenzen soll nicht verloren gehen, die Grenzen sollen geschlossen bleiben, heißt es. Die griechische Regierung setzt sogar die Möglichkeit aus, Schutz oder Asyl zu beantragen. Der Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) kritisiert dies als Verletzung der einschlägigen Konventionen und europäischen Rechts.
Keine Einigung auf Reformen in Sicht
Im Sommer 2015 hatten die EU-Mitgliedsstaaten mit Mehrheit noch beschlossen, Flüchtlinge und Asylbewerber provisorisch per Quoten in der EU zu verteilen. Wirklich umgesetzt wurde der Beschluss nie. Ungarn und drei weitere Staaten hatten dagegen gestimmt. Fünf Jahre später ist das die Meinung der Mehrheit der Mitgliedsstaaten: Eine dauerhafte Quotenregelung, wie sie die "Frontstaaten" Italien oder Griechenland fordern, wird abgelehnt.
Schon im Sommer 2015 sollte das "Dublin-System" der EU reformiert werden. Es besagt im Kern, dass der Mitgliedsstaat der ersten Einreise für Flüchtlinge, Asylverfahren und auch eventuelle Rückschiebung von als illegal erkannten Migranten zuständig ist. Damals hielt die Bundeskanzlerin "Dublin" für obsolet. Davon ist heute nicht mehr die Rede. Die "Dublin"-Regeln wurden in den vergangenen Jahren an einigen Stellen zwar präzisiert, aber im Prinzip hat sich nichts geändert.
Somit ist für alle Ankommenden in Griechenland, egal ob an Land oder auf den Inseln, auch 2020 allein Griechenland zuständig. Der Staat ist zwar seit Jahren - und jetzt erst recht - mit der Zahl der Ankommenden überfordert, aber die Menschen aus Griechenland auf die ganze Europäische Union zu verteilen, kommt für die restlichen EU-Staaten nicht in Frage. "Das ist kein griechisches, sondern ein europäisches Problem", sagt hingegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Das klingt etwas hohl, angesichts der praktischen Politik der letzten fünf Jahre. Die von der EU-Kommission geforderten Änderungen an den Dublin-Regeln, an Asylverfahren und Verteilungssystemen werden von den Mitgliedsstaaten ständig verworfen. Daran haben auch die Bilder aus Idomeni von der griechisch-mazedonischen Grenzen im Winter 2016 oder aus dem "Dschungel"-Camp im französischen Calais nichts geändert.
Abschrecken und Abwehren
"Man muss akzeptieren, dass die Menschen keine neuen Flüchtlinge oder Migranten mehr aufnehmen wollen", hat ein hochrangiger deutscher Politiker in Brüssel schon vor Jahren in Hintergrundgesprächen gesagt. Das sei traurig, aber wahr. Die Politik müsse damit umgehen. Das gelte nicht nur für Deutschland, sondern für den größten Teil der EU. Die Wahlerfolge der rechten und rechtspopulistischen Parteien in den letzten Jahren quer durch die EU bestätigen diese These.
Wie 2015 sind die EU-Staaten auch 2020 bemüht, die Migrations- und Flüchtlingsthematik auf andere abzuwälzen. Griechenland, Kroatien, Slowenien, Italien, Ungarn, Österreich und andere EU-Staaten haben Ankommende 2015 durchgewunken, obwohl das klar gegen die "Dublin"-Regel verstieß. Seither ist vieles unternommen worden, um die Erfassung von Asylbewerbern in ihren Ersteinreiseländern zu verbessern, um die Weiterreise in andere EU-Länder zu unterbinden. Heute muss man aber feststellen, es funktioniert nur bedingt. Nach den Zahlen der Statistikbehörde Eurostat sind Deutschland und Frankreich im dritten Quartal 2019 die EU-Länder mit den meisten Asyl-Erstanträgen von syrischen, afghanischen und jetzt auch venezolanischen Asylbewerbern. In Deutschland waren es rund 35.000 Menschen. Die meisten dieser Menschen müssen zuvor in einem anderen sicheren EU-Land gewesen sein, dass nach der Dublin-Regel für sie zuständig wäre.
Zwischen 2015 und 2020 hat die EU viele Modelle entworfen, wie die Entscheidungen über Flüchtlingsstatus, Asylverfahren oder doch Rückschiebung nach Nordafrika, in Ausschiffungsplattformen oder Asylzentren in EU-Hafenstädten ausgelagert werden könnten. Nichts davon ist je umgesetzt worden. Nur den "Deal" mit der Türkei gab es. Die hatte sich bereit erklärt, gegen sechs Milliarden Euro und andere Vergünstigungen, Migranten und Asylsuchende zurückzunehmen. Dieses Konzept der Abschreckung funktionierte bis zum vergangenen Wochenende aus der Sicht der EU sehr gut. Was aber jetzt tun, wo der der türkische Präsident Erdogan die Vereinbarung nicht mehr einhält? Entscheidungen sind gefragt, wie im Sommer 2015, als Bundeskanzlerin Merkel innerhalb von Stunden dem Druck aus Ungarn und dem Bitten aus Österreich nachgab, die deutsche Aufnahmebereitschaft zu erklären.