EU: Letzte Warnung an Polen
26. Juli 2017Die "politische Atombombe" ließ der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans (siehe Bild oben), vorerst noch im Schrank liegen. So heißt im Brüsseler Jargon ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit eines Mitgliedsstaates der EU nach Artikel 7 des Lissabonner EU-Vertrages. Letzte Woche hatte Timmermans höchst verärgert der polnischen Regierung mit Artikel 7 gedroht.
"Inzwischen hat sich in Polen etwas getan", sagte der an diesem Mittwoch sichtbar milder gestimmte EU-Spitzenfunktionär. Timmermans spielte darauf an, dass der polnische Präsident Andrzej Duda im erbitterten Streit um die polnische Justizreform zwei der vier umstrittenen Gesetze durch ein Veto angehalten hat. Eines der durch Veto blockierten Gesetze, das zur Umgestaltung des Obersten Gerichts, war dem EU-Kommissar ein besonderer Dorn im Auge. Sollte dieses Gesetz doch noch in Kraft treten und zur Entlassung der Obersten Richter führen, dann werde er nicht zögern, "jederzeit" Artikel 7 anzuwenden und die "politische Atombombe" doch noch zu zünden, drohte der aus den Niederlanden stammende EU-Kommissar.
Reformen müssen EU-Recht entsprechen
Das Verfahren kann nach vielen Schritten gemeinsam mit dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament zu einem Entzug der polnischen Stimmrechte in der EU und zu finanziellen Strafen führen. Es ist allerdings noch nie angewendet worden. Niemals zuvor hat die EU-Kommission aber auch so nachdrücklich mit Artikel 7 gedroht. "Die EU-Kommission ist nicht dagegen, dass das polnische Justizsystem reformiert wird", stellte Timmermans noch einmal für das Publikum in Polen klar. "Die Reformen müssen aber mit der polnischen Verfassung und den europäischen Verträgen vereinbar sein." Darum gehe es in dem Streit mit Warschau. "Den Vertrag hat Polen selbst unterschrieben", erinnerte Timmermans.
Ein Sprecher der polnischen Regierung reagierte in Warschau prompt und wies Erpressung durch einen EU-Funktionär zurück. "Die Vorwürfe der EU-Kommission gegen die Reformen im Justizwesen sind völlig unbegründet." Die Umgestaltung des Justizwesens sei eine rein nationale Angelegenheit erklärte der stellvertretende Außenminister Polens, Konrad Szymanski. "Polen wird sich von den Drohungen aus Brüssel kaum beeindrucken lassen", glaubt Zuzana Stuchlikova, von der osteuropäischen Denkfabrik "Europeum" in Brüssel. Selbst ein Verfahren nach Artikel 7 würde die Regierung in Warschau nicht schrecken, weil es einfach mit einer formalen Warnung beginnen würde. "Das hat bisher auch niemanden interessiert in Polen", so Zuzana Stuchlikova.
Verfahren zum Entzug der Stimmrechte sehr komplex
Der Rechtsstaat in Polen ist durch die Reformen der regierenden PiS-Partei in ernsthafter Gefahr. Das hatte die EU-Kommission schon bei den ersten Schritten zur Umgestaltung des Verfassungsgerichts im vergangenen Jahr festgestellt. Alle Versuche, mit der polnischen Regierung ins Gespräch zu kommen, seien mehr oder weniger gescheitert, gab EU-Kommissar Timmermans zu Protokoll. Jetzt geht ihm offenbar die Geduld aus. Er gab der Regierung in Polen noch einen weiteren Monat Zeit, einzulenken. Sollte die EU-Kommission nach der Sommerpause kein Entgegenkommen sehen, werde der Ministerrat, also die Vertretung der Mitgliedsstaaten, sich erneut mit Polen befassen müssen.
Ob der Ministerrat dann allerdings ein Verfahren nach Artikel 7 eröffnen würde, ist völlig offen. Vier Fünftel der Mitgliedsstaaten müssten zunächst in Einvernehmen mit der Europäischen Parlament feststellen, dass Polen in ernster Gefahr ist, vom Pfad eines Rechtsstaates abzuweichen. In einem weiteren Schritt müsste der Europäische Rat dann einstimmig feststellen, dass die Rechtsstaatlichkeit tatsächlich nicht mehr gegeben ist. Für diesen Fall hat der ungarische Premierminister Viktor Orban bereits angekündigt, er werde zu Polen stehen und einen solchen Beschluss nicht mittragen. Erst in einem dritten Schritt würde der Ministerrat dann über Strafen, wie zum Beispiel den Entzug der Stimmrechte oder das Streichen von Zuschüssen entscheiden. Dann reicht eine qualifizierte Mehrheit. Da dieses Artikel 7-Verfahren noch nie angewendet wurde, weiß in Brüssel, ähnlich wie beim Brexit (Art. 50), niemand so genau, wie das Verfahren sich entwickeln würde und wie lange es dauern könnte.
EU eröffnet Verfahren wegen Richterernennung
Neben der "Atombombe" stehen der EU-Kommission noch andere Mittel zur Verfügung, um widerspenstige Mitgliedsstaaten zur Räson zu bringen. Die sogenannten Vertragsverletzungsverfahren werden angewendet, um EU-Recht durchzusetzen. Von diesen Verfahren laufen Hunderte gegen alle 28 Mitgliedsstaaten. Frans Timmermans kündigte an, gegen Polen wegen seiner Justizreform zwei neue Verfahren zu eröffnen. Sobald das neue Gesetz zur Besetzung der Richterstellen an niederen Gerichten in Kraft trete, werde die EU-Kommission ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Polen einleiten, kündigte EU-Kommissar Timmermans an. Diese Vertragsverletzungsverfahren enden nach Jahren oftmals mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und mit Geldstrafen für das betroffene Mitgliedsland.
Schon in der vergangenen Woche hatte Frans Timmermans, der Vize-Präsident der EU-Kommission gesagt, es gehe auch darum, die Glaubwürdigkeit der EU zu wahren. Nicht nur Polen, auch Ungarn macht in Sachen Rechtsstaatlichkeit seit Jahren Probleme. Die polnische Regierung hatte angekündigt, im Falle eines Verfahrens gegen Ungarn auf jeden Fall zu Viktor Orban halten zu wollen. Gerüchten, die EU wolle deshalb im einem verbundenen Artikel 7-Verfahren gegen Polen und Ungarn gemeinsam und gleichzeitig vorgehen, widersprach Timmermans energisch: "Vielen Dank für die Frage, aber das ist absoluter Blödsinn. Jedes Land wird für sich betrachtet."