EU beschwört Gemeinsamkeit im Kampf gegen Corona
10. März 2020Die 27 Staats- und Regierungschefs persönlich berieten drei Stunden in einer Videokonferenz über Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie in der Europäischen Union. In Brüssel saß der Ratsvorsitzende Charles Michel vor einer Wand mit 20 Fernsehmonitoren und schaltete mit Hilfe eines Technikers zwischen den Europäischen Hauptstädten hin und her. Dafür, dass es eine Premiere war, funktionierte es ganz ordentlich, hieß es aus dem Ratsgebäude. Beim Thema Corona waren sich die 27 Chefs der EU, obwohl sonst oft zerstritten, auch schnell einig, wie der Vorsitzende der Runde, Ratspräsident Michel, hervorhob. "Wir haben entschieden zusammen zu handeln, und zwar schnell. Zusammenarbeit ist unser Ziel", sagte Michel vor der Presse.
Konjunkturspritze aus Brüssel
Die EU-Kommission wird 7,5 Milliarden Euro an eigenen Fördermitteln in die Hand nehmen, um möglichst schnell Investitionen in Höhe von 25 Milliarden Euro in den am stärksten von der Epidemie betroffenen Ländern, Italien, Frankreich und Deutschland, auszulösen. Das kündigte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, nach der Videokonferenz an. Gesundheits- und Innenminister der EU würden sich von heute an täglich zusammenschalten, um über die nächsten Maßnahmen zu beraten. "Wir müssen die Ausbreitung des Virus verlangsamen, und zwar mit angemessenen, proportionalen Maßnahmen", sagte EU-Ratspräsident Charles Michel. Dabei können die Maßnahmen durchaus drakonisch sein wie in Italien, das jetzt komplett eingeigelt ist, oder punktuell wie in Deutschland, je nach Lageentwicklung.
Die Schließung der Grenze für Einreisende aus Italien durch Österreich kommentierte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht direkt. "Darüber müssen die Innenminister jetzt täglich sprechen", sagte von der Leyen nur und erwähnte auch keine weiteren möglichen Grenzschließungen. Die EU-Regierungschefs vereinbarten weiter, die Bestände an Schutzmasken, Beamtungsgeräten und weiterer Ausrüstung in allen Mitgliedsstaaten zu erfassen und nötige Ergänzungen gemeinsam zu beschaffen. Exportverbote und Hamsterkäufe des wichtigen Materials seien keine Lösung. Der nächste EU-Gipfel soll Ende März, wenn möglich, dann doch mit den echten Menschen wie üblich in Brüssel stattfinden, sagte Michel.
Europa-Parlament sagt Sitzungen ab
Wie der Europäische Rat und die EU-Kommission ist auch die dritte große EU-Institution, das Parlament, nun endgültig im Krisenmodus. Zwar ist die Zahl der tatsächlichen Corona-Erkrankten in der belgischen Hauptstadt relativ klein, aber da die EU-Beamten und die Europaparlamentarier jede Woche quer durch alle möglichen EU-Staaten reisen, sehen sie sich als sogenannte "Super-Verteiler". Das sind Menschen, die durch ihre zahlreichen Kontakte, die Möglichkeit hätten, das Virus, wenn sie denn infiziert wären, schnell und über große Distanzen weiterzugeben.
Das Europäische Parlament hat mit dieser Begründung seine reguläre Plenarwoche im französischen Straßburg abgesagt, zu der normalerweise 3500 Mitarbeiter des Parlaments anreisen. Besuchergruppen werden ausgeladen, Kongresse abgesagt. Nächste Woche wird das Parlament wohl komplett schließen. In Brüssel sind die Schulen allerdings geöffnet. Der belgische Staat hat keine Maßnahmen angeordnet. Das Alltagsleben läuft normal.
Parlamentspräsident macht "home-office"
An diesem Dienstag fand ersatzweise in Brüssel eine eintägige Notsitzung des EU-Parlaments statt, auf der über die Bekämpfung der Corona-Epidemie beraten wurde. Parlamentspräsident David Sassoli hat sich heute vorsorglich in eine Quarantäne in seiner Dienstwohnung in Brüssel begeben. Er hatte am Wochenende seine Heimat Italien besucht. Die Abgeordneten aus Italien sollten das Gleiche tun oder in ihren Wohnorten in Italien bleiben, empfiehlt Sassoli.
Panik oder Planlosigkeit?
Einige Europaabgeordnete forderten in der Debatte, den Parlamentsbetrieb eine Zeit lang auszusetzen. Die nationalkonservative Abgeordnete Duris Nichoi Sonova aus Tschechien kritisierte, dass 700 Mitglieder des Parlaments sich immer noch treffen sollten. "Das ist unverantwortlich. Wir sollten das Parlament schließen." Das britische Parlament gehe mit gutem Beispiel voran und überlege, bis September in die Ferien zu gehen, so Duris Nichoi Sonova. Widerspruch kam vom rechtspopulistischen Abgeordneten Roman Haider aus Österreich. Man dürfe nicht in Panik verfallen. Das EU-Parlament sei eher ein "Hort der Planlosigkeit". Die Bediensteten sollten zuhause bleiben, wenn sie auch nur einen Schnupfen verspürten. Die Abgeordneten sollten aber weiterarbeiten und einen Mindestabstand von einem Meter zueinander halten. Das ergebe alles keinen Sinn, so Haider. Andere Abgeordnete forderten mehr Zuschüsse und Investitionen für die betroffenen Regionen und Wirtschaftszweige.
Österreich riegelt Grenze ab, Italien steht still
Während in Brüssel im Parlament noch diskutiert wurde, machten Regierungen der Mitgliedsstaaten Nägel mit Köpfen. Österreich schloss seine Grenze zu Italien und forderte alle eigenen Bürger auf, Italien zu verlassen. Dieser drastische Einschnitt in die innereuropäische Reisefreiheit war noch vor wenigen Tagen abgelehnt worden. Italien wird mehr und mehr isoliert. Viele Fluggesellschaften streichen ihre Verbindungen nach Italien. Malta, Spanien und Tschechien haben den Flugverkehr nach Italien verboten.
Im Land selbst kommt, vor allem im Norden, nach den drakonischen Maßen der Regierung in Rom das öffentliche Leben zum Stillstand. Aljoska Stefanato, ein Tourismusunternehmer aus Treviso bei Venedig, schilderte im Gespräch mit der DW, dass seine Stadt praktisch menschenleer sei. "Es fahren sehr wenige Autos, alle sind zuhause. Bei uns sind alle ein wenig verrückt und gestresst jetzt."
Verreisen nur mit Sondergenehmigung
Die wenigen geöffneten Supermärkte seien voller Waren, aber menschenleer, beschrieb Stefanato die Lage. Nur Restaurants mit Sondergenehmigungen und Apotheken seien noch offen. Schulen, Kinos, Kirchen und viele Betriebe seien zu. Die Grenze zu einem anderem Bezirk oder zu einer anderen Provinz dürfe man nicht mehr überschreiten, außer man beantragt eine Ausnahmegenehmigung, sagte Stefanato. Wer dagegen verstößt, müsse 270 Euro bezahlen. Arbeiten kann Stefanato in seinem Tourismusunternehmen, das Bootsausflüge organisiert, im Moment nicht mehr. "In Venedig gibt es keine Touristen mehr. Lange Zeit haben die Venezianer geklagt, die Touristen würden unsere Stadt zerstören. Jetzt weinen sie, weil sie kein Geld mehr verdienen."