EU prüft Türkei-Sanktionen
10. September 2020Die EU arbeitet in Brüssel zurzeit an einer Liste mit möglichen Sanktionen gegen die Türkei, um sie dazu zu bewegen, ihre umstrittenen Gas-Probebohrungen im östlichen Mittelmeer auf ihre eigenen Hoheitsgewässer zu beschränken. Die EU-Mitgliedsstaaten Griechenland und Zypern fühlen sich von der Türkei bedroht. Bereits Mitte Juli hatten beide Staaten durchgesetzt, dass die EU über Sanktionen nachdenken müsse. Doch der Konflikt eskalierte weiter.
Zwischenzeitlich wurden Militärmanöver abgehalten und sogar von Kriegsgründen war die Rede. Die Außenminister der EU sahen sich genötigt, die Liste mit konkreten Sanktionen Ende August in Auftrag zu geben. Über die Sanktionen "könnten", so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, die Staats- und Regierungschefs der EU am 24. September entscheiden. Könnten, sagte er, nicht werden oder müssen.
Griechen und Zyprer machen Druck
Die EU bleibt weiterhin vorsichtig. Borrell hat nämlich auch den Auftrag, parallel mit den Türken zu verhandeln, um die Lage zu entspannen. Die derzeitige deutsche EU-Ratspräsidentschaft hatte versucht, zwischen Griechen, Zyprern und Türken zu vermitteln, bisher ohne durchschlagenden Erfolg. So wird in der EU-Kommission und in Arbeitsgruppen des Rates, in dem die EU-Mitglieder vertreten sind, weiter an Listen gefeilt.
Zypern und Griechenland wollen verhindern, dass der Prozess verschleppt wird und erhöhen zum Missfallen des Außenbeauftragten Borrell den Druck. Sie wollen Sanktionen gegen Belarus, die entscheidungsreif auf dem Tisch liegen, nur mittragen, wenn gleichzeitig Sanktionen gegen Ankara verabschiedet werden. Zypern drohte an diesem Mittwoch offen mit einem Veto. Für die Beschlüsse zu Sanktionen ist Einstimmigkeit nötig. Jeder Mitgliedsstaat kann also blockieren.
Sanktionen in Stufen
Wer und was in der Türkei genau sanktioniert werden könnte, ist noch vertraulich. Borrell deutete aber an, dass es nicht nur um Sanktionen gegen einzelne Personen gehe, sondern auch um die Firmen, die an den Gasexplorationen beteiligt sind. "Alles, was mit dem Problem zusammenhängt", könnte betroffen sein, sagte der EU-Außenbeauftragte. Gemeint sind damit die Bohr- und Forschungsschiffe, die für die Türkei im Einsatz sind. Für sie würden Häfen in der EU gesperrt und keine Ersatzteile mehr geliefert. Es könnten aber auch diejenigen Banken auf die Sanktionsliste genommen werden, die die Unternehmen finanzieren.
Als nächste Eskalationsstufe wären Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige in der Türkei denkbar, deutete Borrell an. Das betreffe Bereiche, "in denen die türkische Wirtschaft eng mit der europäischen Wirtschaft verknüpft ist". Gemeint ist damit wohl auch die Zollunion, die einen fast zollfreien Warenaustausch zwischen der Türkei und der EU ermöglicht. Die Türken wollen sie seit langem ausweiten. Die EU könnte sie nun einschränken. Möglich wäre auch, die nur äußerst schleppend verlaufenden Beitrittsverhandlungen mit dem EU-Bewerberland Türkei formal zu beenden. Österreich fordert das ganz offen. Die übrigen EU-Staaten sind dazu noch nicht bereit. Zollunion und Beitrittsverhandlungen wären die beiden größten diplomatischen Kanonen, die die EU abfeuern könnte.
Welche Wirkung haben Sanktionen?
"Die Türkei wird sich auch von den großen Kanonen nicht beeindrucken lassen", meint jedoch Sinan Ülgen von der Denkfabrik "Carnegie-Stiftung" in Brüssel. "In Ankara glaubt man nicht, dass die EU jemals einstimmig dafür wäre, diese Sanktionen zu beschließen. Das ist eher kontraproduktiv." Sinan Ülgen, Außenpolitikexperte aus der Türkei, sieht die EU in einem Dilemma. "Die EU muss einstimmig entscheiden. Das führt dazu, dass die Sanktionen auf jeden Fall zu bescheiden ausfallen werden, um die Türkei zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen." Er wolle nicht härteren Maßnahmen das Wort reden, so Ülgen im Gespräch mit der DW, aber punktuelle Sanktionen gegen Personen oder Firmen hätten kaum Sinn, weil sie wirkungslos blieben.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sieht solche Maßnahmen generell eher skeptisch. Angesprochen auf Sanktionen gegen Russland meinte er im ARD-Fernsehen, er kenne keinen Fall, in dem ein Land auf diese Weise zu einer Verhaltungsveränderung bewegt worden sei. Sanktionen führten eher zu einer Verhärtung der Politik. Es gibt allerdings auch Experten, wie Janis Kluge von der "Stiftung Wissenschaft und Politik" in Berlin, die Sanktionen durchaus für ein bewährtes Mittel halten, um langfristig Politik zu beeinflussen und Signale zu setzen.
Ein wenig Zuckerbrot?
"Ich glaube schon, und da können wir das auch mit anderen Situationen vergleichen, dass gezielte Sanktionen auch ihre Wirkung entfalten können", glaubt der grüne Europaabgeordnete und Außenpolitikexperte Sergey Lagodinsky. Es gehe darum, ein starkes Signal an die Türken zu senden, damit diese auch in ihrer kriegerischen Rhetorik "einen Gang zurückschalten".
Josep Borrell, der Außenbeauftragte, hatte nach dem EU-Außenministertreffen Ende August auch davon gesprochen, dass man der Türkei nicht nur die Peitsche, sondern auch das Zuckerbrot, also positive Anreize, bieten müsse. Das könnte zum Beispiel die Erweiterung der Zollunion sein, falls Ankara im Gasstreit einlenkt.
Der EU sei bislang aus türkischer Sicht eine Art Vermittlerrolle zugekommen, glaubt der Türkei-Experte Sinan Ülgen von der Carnegie-Stiftung. Diese würde sie mit der Verhängung von Sanktionen wohl verlieren. Außerdem würde die Türkei wohl mit Gegen-Sanktionen antworten. Sergey Lagodinsky setzt daher weiter darauf, einen Dialog zwischen den Konfliktparteien hinzubekommen. "Grundsätzlich haben wir noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft, ein Einfrieren der Situation zu erreichen, um nach einer gemeinsamen Lösung und einer fairen Sicherheitsarchitektur im Mittelmeer zu suchen." Man sollte auch darüber nachdenken, so Lagodinsky, als EU gemeinsam mit der Türkei nach alternativen Energiequellen zu suchen, statt nur auf Gas zu setzen.