EU: "Negativer Trend" in der Türkei
10. November 2015
"Bemerkenswerte Rückschritte", "besorgniserregende Entwicklungen", "unzureichende Bemühungen", "Stillstand" - der jüngste Fortschrittsbericht 2015 der EU-Kommission über die Türkei fällt überraschend deftig aus. Insgesamt gebe es in dem Land "einen negativen Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte", heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Papier.
EU-Kommission in der Kritik
Fortschritten bei der Annäherung an die EU stünden Schritte gegenüber, die "gegen europäische Standards verstoßen", erklärte die EU-Kommission. Sie forderte die nach den jüngsten Neuwahlen gebildete Regierung auf, "diese dringenden Prioritäten anzugehen".
Das brisante Papier sollte ursprünglich schon im Oktober veröffentlicht werden - also vor den Wahlen in der Türkei am 1. November. Kritiker werfen der EU-Kommission vor, mit der Verzögerung die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt zu haben, um ein Entgegenkommen Ankaras in der Flüchtlingspolitik zu erreichen. Die AKP hatte die absolute Mehrheit im Parlament zurückerobert.
Grassierende Korruption
Konkret beklagt der Bericht Rückschritte bei der Durchsetzung von Grundrechten und beim Kampf gegen die Korruption. Die bleibe "weit verbreitet", die Zahl strafrechtlicher Verfolgungen und Verurteilungen gehe zurück. Schonung fänden vor allem hochrangige Kreise. Beim Aufbau eines unabhängigen Justizsystems trete die Türkei auf der Stelle.
Neben Kritik am mangelnden Reformprozess bemängelt die EU-Kommission demnach auch den "Stillstand" in der Kurdenfrage und fordert Ankara zur Aussöhnung mit den Kurden auf. Ein neuerlicher Friedensprozess sei "zwingend".
Intoleranz und Repression
Der Schutz der Menschen- und Grundrechte habe sich zwar "in den vergangenen Jahren deutlich verbessert", erklärte die EU-Kommission. "Es bleiben aber große Mängel." Die Türkei müsse insbesondere wirksam die Rechte von Frauen, Kindern und Homosexuellen garantieren sowie die soziale Einbindung von Minderheiten wie den Roma sicherstellen.
"Beträchtliche Besorgnis" äußert die EU-Kommission im Medienbereich und verwies auf "laufende und neue Strafprozesse gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer Sozialer Medien, die Einschüchterung von Journalisten und Medienfirmen sowie das Vorgehen der Behörden bei der Beschränkung der Medienfreiheit". Auch die Änderung der Internet-Gesetzgebung sei "ein bedeutender Rückschritt".
Unverständnis in Ankara
Die türkische Regierung wies die Kritik der EU an der Amtsausübung von Präsident Erdogan energisch zurück. Entsprechende Kommentare im EU-Fortschrittsbericht seien "inakzeptabel", teilte das EU-Ministerium in Ankara mit. Desweiteren seien "einige der Kommentare" in dem Bericht zu den Themen Rechtsstaatlichkeit sowie Meinungs- und Pressefreiheit "unfair und exzessiv". "Objektive und angemessene Kritik" würde hingegen sorgfältig beachtet werden.
Lob in der Flüchtlingsfrage
Es gibt aber auch Lob für Ankara, nämlich für die "bemerkenswerten Anstrengungen" bei der Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Es habe Fortschritte bei der Integration der Flüchtlinge gegeben. Bemäkelt wird aber: "Es existieren einige Gesetzeslücken. Die Türkei sollte noch Gesetze auf den Weg bringen, die Syrern, die unter vorübergehendem Schutz stehen, Zugang zum Arbeitsmarkt erlauben."
Mit Blick auf die Sicherung der Grenzen fordert die EU-Kommission von Ankara trotz einiger Fortschritte mehr Anstrengungen. Die jüngste Eskalation der Gewalt im Osten und Südosten des Landes habe darüber hinaus "zu ernster Besorgnis mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen geführt". Die EU forderte Ankara auf, Verhältnismäßigkeit bei Anti-Terrormaßnahmen zu wahren.
ww/SC/bor (rtr, afp, kna)