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EU-Beitritt als Prestigefrage

Rainer Sollich4. Oktober 2004

Am Mittwoch (6.10.) stellt die EU-Kommission ihren Fortschrittsbericht zur Türkei vor. So "kulturell fremd", wie manche Kritiker sagen, ist das Land der EU gar nicht, schreibt Rainer Sollich in seinem Kommentar.

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Rainer Sollich

Kann die EU einen türkischen Beitritt verkraften? So kontrovers diese Frage derzeit in Europa diskutiert wird - faktisch ist sie längst entschieden. Jedenfalls aus Brüsseler Sicht: Ankara ist schon seit über vier Jahren offizieller Beitrittskandidat. Zudem dürfte die nun wohl anstehende Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einen Automatismus in Gang setzen, der kaum noch zu stoppen sein wird. Höchstens durch Volksbefragungen in EU-Ländern. Oder auch dann, wenn die Türkei schließlich selbst daran scheitern sollte, durch weitere Reformen die Beitrittsreife zu erreichen. Wobei der eigentliche Beitritt aber ohnehin erst in 10 bis 15 Jahren möglich sein wird.

Die weit verbreitete Skepsis gegenüber einer weiteren Annäherung von Türkei und EU ist allerdings höchst einseitig. Denn in der Türkei selbst liegt die Zustimmungsrate bei etwa 70 Prozent. Und es gibt auch keine maßgebliche politische oder gesellschaftliche Kraft, die offen gegen die Perspektive einer Mitgliedschaft agieren würde. Was allerdings nicht heißt, dass es solche Kräfte nicht gibt. Nur: Solange Brüssel die türkischen Erwartungen nicht enttäuscht, werden sich die anti-europäischen Kräfte kaum aus der Deckung wagen können. Dafür ist die Europa-Euphorie in der Bevölkerung schlichtweg zu groß.

Für diese Euphorie gibt es keineswegs nur wirtschaftliche Gründe. Der EU-Beitritt ist für Ankara eine Prestigefrage und wird auch von vielen einfachen Türken pauschal mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt. Und zwar keineswegs zu Unrecht: Von der Abschaffung der Todesstrafe über eine stärkere Gewichtung der Frauenrechte bis hin zu Fernseh-Sendungen in kurdischer Sprache: Schon jetzt gibt es zahlreiche Verbesserungen, von denen letztlich die ganze türkische Gesellschaft profitiert. Durchgesetzt werden konnten diese Reformen vor allem deshalb, weil Brüssel auf nachhaltigen Reformen bestand. Nichts hat in den letzten Jahren so stark zur Stabilisierung der Türkei beigetragen wie die Aussicht auf einen späteren EU-Beitritt.

Aus türkischer Perspektive wäre ein Beitritt die Krönung des europäischen Weges, auf den Staatsgründer Kemal Atatürk das Land schon vor über 80 Jahren geführt hat. Atatürk führte damals nicht nur die bis heute gültige Trennung von Staat und Religion ein. Er sorgte zum Beispiel auch dafür, dass türkische Frauen bereits 1934 das allgemeine Wahlrecht erhielten, also zu einer Zeit, in der ihre Geschlechtsgenossinnen in Ländern wie Frankreich und der Schweiz an Wahltagen noch artig zu Hause bleiben mussten. Dies alles sollten diejenigen bedenken, die heute die Türkei trotz Jahrzehnte langer Mitgliedschaft in NATO und Europarat als "kulturell fremd" ablehnen.

Natürlich sind weite Teile des Landes noch unterentwickelt. Und natürlich gibt es kulturelle Unterschiede, die nicht wegzuleugnen sind. Trotzdem ist es für die meisten Türken eben kein Widerspruch, sich zugleich als Muslim, Demokrat und Europäer zu fühlen. Die derzeitigen Türkei-Debatten in Europa machen leider den Eindruck, als wollte man ihnen einen solchen Widerspruch unbedingt einreden.