Ethikratmitglied zu Corona: Regierung zu zögerlich
14. Dezember 2020Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens. Mit seinen unabhängigen Empfehlungen gibt er Orientierung für Gesellschaft und Politik; in ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen und rechtlichen Fragen. Mehrfach hat sich das Gremium auch zur Corona-Pandemie geäußert.
Deutsche Welle: Herr Frister, halten Sie die Maßnahmen, die Bund und Länder nun beschlossen haben, ethisch-juristisch für gerechtfertigt?
Helmut Frister: Ich denke ja. Es blieb Bund und Ländern nicht viel anderes übrig, als jetzt wirklich Maßnahmen zu treffen, von denen man zumindest hoffen kann, dass sie die Pandemie ein wenig in der Entwicklung reduzieren werden. Denn wir sind ja in den letzten Tagen wieder in ein recht schnelles Wachstum übergegangen. Das heißt, es ist offensichtlich geworden, dass insbesondere in Anbetracht des Weihnachtsgeschäfts etwas anlief und die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichten, um die Zahlen auf dem bisherigen Level zu halten.
Aber gehen die Einschränkungen nicht vielleicht zu weit? Die persönlichen Freiheiten werden ja erneut erheblich eingeschränkt.
Ja, das ist richtig. Die persönlichen Freiheiten werden erneut beschränkt. Aber natürlich ist jede Kontakt-Beschränkung; eine Beschränkung der persönlichen Freiheit. Und zwar eine ganz gravierende. Aber ohne Beschränkungen geht die Infektionsgefahr weiter nach oben.
Was wir, glaube ich, doch gelernt haben in den letzten Wochen und Monaten ist, dass der Appell an freiwillige Zurückhaltung nur begrenzt hilfreich ist, weil jeder Einzelne doch im Hinterkopf hat, dass es auf seinen kleinen Beitrag nicht so sehr ankommt. Aber die Summe dieser vielen kleinen Beiträge kann gerade den Unterschied machen. Das ist ja das Problem, dass sich jeder denkt: Naja, da wird es auf mich doch nicht ankommen. Aber wenn das jeder denkt, dann haben wir ein Problem.
Bayern verhängt ja noch drastischere Maßnahmen wie Ausgangssperren. Wären auch Sie dafür?
Diese sogenannten Ausgangssperren sind natürlich zunächst einmal nur Ausgangssperren dem Namen nach, weil man ja für sehr viele Zwecke aus dem Haus darf. Es ist vielleicht auch ein gewisser psychologischer Effekt, um den Leuten klarzumachen, dass es jetzt wirklich ernst ist. Und es liegt wirklich auch in der Verantwortung des Einzelnen, seine Kontakte zu reduzieren.
Uns ist, was die Freiheitsrechte angeht, nicht damit geholfen, dass wir die Sache ewig hinziehen, sondern wahrscheinlich mehr damit geholfen, dass wir jetzt wirklich versuchen, die Zahlen mal wieder etwas runter zu bringen, um danach auch wieder mehr Freiheiten zu haben. Der Ethikrat hatte ja schon im Frühjahr drastische Maßnahmen zur Einbindung der Pandemie gefordert und auch gerechtfertigt.
Hat die Politik nicht - langfristig betrachtet - versagt? Im Sommer ist nicht viel passiert. Dann kam der Teil-Lockdown, der nicht viel gebracht hat. Hätte man nicht einfach offener sagen müssen, was nötig ist?
Ja, im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer. Aber die Politik spiegelt natürlich auch immer ein bisschen die Stimmungslage der Gesellschaft. Was man der Politik vielleicht vorwerfen kann, dass in der Tat im Sommer konkretere Vorbereitungen unterblieben sind, etwa dafür zu sorgen, dass es wirklich genügend FFP-2-Masken und Tests in Alten-und Pflegeheimen gibt, so dass man Besuche machen kann. Also bei den konkreten Vorbereitungen im Sommer, das ist mein Eindruck, hätte einiges besser laufen können.
Nun wissen wir ja, wie die Maßnahmen aussehen, die ab Mittwoch gelten werden. Wäre jetzt nicht eigentlich die Chance gewesen, eine langfristige Perspektive zu entwickeln?
Ja, das sagt sich immer gut mit der langfristigen Perspektive. Nur niemand - auch die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin - weiss natürlich, wie die Zahlen zum Beispiel Anfang Januar aussehen werden, ob der Shutdown anschlägt, man die Zahlen runter bringen kann. Es geht doch letztlich darum, wie wir durch den Winter kommen. Die Politik muss die Entwicklung von den Zahlen abhängig machen. Das kann man ihr nicht vorwerfen!
Ab Anfang des kommenden Jahres soll gegen Corona geimpft werden. Da stellt sich die Frage: Sollten Menschen, die geimpft wurden, gewisse Privilegien bei den Freiheiten genießen dürfen und einen Immunitätsausweis erhalten?
Der Deutsche Ethikrat hat bereits Stellung genommen zu der Frage, ob es einen Immunitätsausweis geben sollte. Dazu waren die Positionen damals unterschiedlich. Aber einig waren wir uns darin, dass es diesen Immunitätsausweis generell nicht geben sollte. Ich persönlich glaube, dass man auch bei der Impfung zunächst mal deshalb vorsichtig sein muss, weil nicht ganz klar ist, ob Personen, die geimpft sind, wirklich nicht ansteckend sind, oder ob sie es nur selber nicht bekommen.
Und zum zweiten weiß man noch nicht, wie lange diese Immunität anhält. Dennoch, bestimmte schwerwiegende Beschränkungen wird man nicht mehr rechtfertigen können. Etwa Besuchseinschränkungen in Altenheimen und dergleichen sind dann nicht mehr zu rechtfertigen. Selbstverständlich ist dann auch eine Quarantäne nicht mehr zu rechtfertigen, wenn man Kontakt mit anderen Personen hatte. Aber bei der Maskenpflicht ist es schwierig, weil das dann bedeutend würde, dass Geimpfte ohne Maske herumliefen. Wer soll das dann noch kontrollieren?
Seit Mai 2020 ist der Jurist Professor Helmut Frister Mitglied des Ethikrates. Er ist Direktor des Instituts für Rechtsfragen der Medizin an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf.
Das Interview führte Volker Witting.