Eschborn: "Keine Regierungskrise in Südkorea"
28. April 2014Deutsche Welle: Wie hat der südkoreanische Regierungschef Chung Hong-Won seinen Rücktritt begründet?
Norbert Eschborn: Er hat gesagt, es sei die einzige Reaktion, die ihm angemessen erscheine, um auf die nationale Tragödie zu reagieren. Die südkoreanische Öffentlichkeit suchte seit Tagen nach einem Schuldigen. Premierminister Chung ist jetzt nicht dieser Schuldige, aber er hat sich sozusagen vorweg bereit erklärt, stellvertretend für die gesamte Regierung Verantwortung zu übernehmen und so der Öffentlichkeit das Opfer zu geben, das sie verlangt hat.
Ist er ein Bauernopfer, stellvertretend für Präsidentin Park Geun-Hye?
Das würde mir zu weit gehen. Bauernopfer ist vielleicht auch nicht der richtige Ausdruck. Er war vor dem Hintergrund der Stimmung in der Bevölkerung ein notwendiges Opfer. Natürlich steht ein Premierminister auch für die Versäumnisse der Regierung bei der Verhütung solcher Unglücksfälle und für Pannen bei der Rettung. Beides ist hier vorgekommen.
Es gibt offenbar eine Reihe von Vorschriften zur Prävention solcher Unglücke. Die wurden aber in diesem Fall wahrscheinlich nicht angewendet. Das wird die Untersuchung sicherlich noch zeigen. Man wird sich natürlich fragen: Wie steht es mit der Kontrolle fahrlässig operierender Fährunternehmen durch die entsprechenden Regierungsorganisationen? Und wenn man dann weiterbohrt, wird man unweigerlich zu der Frage kommen, die auch in koreanischen Medien schon behandelt wird: Verhindert die allgegenwärtige Korruption ein effektives Funktionieren des Regierungsapparates und der nachgeordneten Behörden bei der Bewältigung der ihnen übertragenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten?
Ich denke, dass der Premierminister zurückgetreten ist, weil ihm klar war, dass in diesem Bereich bei der Untersuchung Mängel festgestellt werden würden. Wie schwer die sind, wird dann die genaue Analyse zeigen.
Präsidentin Park hat seit dem Unglück stark an Zustimmung verloren. Wie sehr ist auch sie dadurch beschädigt?
Die Tatsache, dass Präsidentin Park beim Staatsbesuch Präsident Obamas in Seoul am vergangenen Freitag auf den offiziellen Fotos keine Trauerkleidung trug, während die US-Delegationsmitglieder nahezu sämtlich dunkel gekleidet waren, wurde von Teilen der südkoreanischen Öffentlichkeit durchaus sehr kritisch gesehen.
Trotzdem muss man relativieren, was es hierzulande überhaupt bedeutet, an "Zustimmung zu verlieren". In der Woche vor dem Unglück hatte die Präsidentin Zustimmungswerte von über 60 Prozent. Das ist für uns ungewöhnlich hoch, weil sie eigentlich in den ersten mittlerweile 15 Monaten ihrer Amtszeit keines ihrer politischen Projekte richtig voranbringen konnte. Sie hat sogar einige ihrer zentralen Wahlversprechen schlichtweg nicht eingehalten: zum Beispiel die Erhöhung der Mindestrenten für die Älteren oder die Halbierung der Studiengebühren für die Studenten.
Unter diesen Umständen hätte ein Staats- oder Regierungschef in einem westlichen Land schon einen erheblichen Ansehensverlust erlitten. In Südkorea stellt sich die Situation aber anders dar. Frau Park hat nach wie vor eine hohe Zustimmung, wohl auch deshalb, weil es keine Alternative zu ihr gibt. Die Opposition präsentiert sich momentan in einem erbärmlichen Zustand und kann weder inhaltlich noch personell als ernsthafte Alternative gelten. Und auch die nach dem Unglück gemessenen Popularitätswerte zeigen zwar einen Rückgang, aber die Zahlen sind mit über 50 Prozent immer noch sehr hoch.
Vielleicht hätte man sich von Präsidentin Park auch gewünscht, dass sie den einen oder anderen Minister sofort entlassen hätte. Sie hat das nicht getan, es wird aber spekuliert, dass sie, wenn Premierminister Chung - dessen Rücktritt erst Ende Mai wirksam wird - auch zu einer Kabinettsumbildung schreitet. Ich sehe aber nicht, dass Park Geun-Hye als Präsidentin in irgendeiner Weise gefährdet ist. Dafür ist ihre Position viel zu sicher. Und ich glaube, auch die Koreaner wissen zu unterscheiden zwischen der allgemeinen Regierungspolitik und möglichem Versagen einzelner Behörden und Organisationen in diesem besonderen Fall.
Sie rechnen also mit weiteren personellen Konsequenzen?
Ja, das ist ein in Südkorea bewährtes und probates Mittel. Man wird sich natürlich fragen müssen, wer für das Unglück verantwortlich ist. Dass die Schiffscrew strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, ist klar. Aber hier geht es auch um die übergeordneten Versäumnisse. Wie kann man beispielsweise so unerfahrene Besatzungsmitglieder überhaupt für den Personentransport zulassen? Fragen wie diese müssen abschließend geklärt werden. In diesem Zusammenhang ist auch schon mal der Minister für Fischerei und maritime Angelegenheiten genannt worden, der aber erst im März dieses Jahres ins Amt kam, vier Wochen vor der Katastrophe. Sich jetzt an ihn zu halten ist natürlich nicht unbedingt sinnvoll. Stattdessen muss man jetzt zurückverfolgen, wer eigentlich wann für was zuständig war. Das ist schwierig und dauert lange.
Ich kann mir auch vorstellen, dass dieser Vorgang auch Auswirkungen auf die am 4. Juni anstehenden Kommunalwahlen hat. Auch, wenn es bis dahin vielleicht zu einer teilweisen Aufklärung und Beruhigung gekommen ist, müssen wir doch davon ausgehen, dass die Menschen aus Verärgerung und Verbitterung entsprechende Konsequenzen an der Wahlurne ziehen könnten. Entweder sie wählen die Opposition, oder sie gehen gar nicht zur Wahl. Die Wahlbeteiligung bei solchen Wahlen ist ohnehin nicht besonders hoch, und das Vertrauen in die Politiker hat als Ganzes gelitten.
Es geht hier nicht nur um die Vertreter der Regierungspartei. Die Opposition hat in den vergangenen 15 Monaten alles andere als ein glanzvolles Bild abgegeben, sie ist durch innere Streitereien zerrissen und konnte der Regierung inhaltlich überhaupt nicht das Wasser reichen. Sie hatte auch kaum Gelegenheit, sich mit Inhalten zu beschäftigen, weil sie überwiegend mit sich selbst beschäftigt war.
Sie haben gesagt, das Vertrauen hat sehr gelitten. Wie schwerwiegend ist die durch das Fährunglück ausgelöste innenpolitische Krise?
Ich würde nicht von einer innenpolitischen Krise sprechen. Die Institutionen sind stabil, die gewählten Personen sind im Amt und werden dort - bis auf den Premierminister - vorläufig auch bleiben. Ich würde es eher als eine Gewissensprüfung im Land bezeichnen, eine Seelensuche. Es finden sich im Moment sehr selbstkritische Artikel und Kommentare in den südkoreanischen Medien. Die Kommentatoren fragen: Haben wir eigentlich eine Kultur, die unserer Lebensweise und dem 21. Jahrhundert angemessen ist?
Die Erziehung in Korea ist autoritär. Es wird von jungen Menschen nicht unbedingt eigenständiges und kreatives Denken erwartet, sondern vielmehr, dass sie den Anordnungen der Älteren, der Höhergestellten, der Lehrer ohne Widerspruch folgen. Und genau das gerät mittlerweile immer mehr ins Zwielicht. Das wird noch keinen Wandel in der gesamten Gesellschaft auslösen, aber ich halte es für eine wichtige und interessante Debatte, denn Korea muss der jungen Generation auch Kreativität und eigenständiges Denken zuweisen, sonst überlebt es als Land in der Innovations- und Informationsgesellschaft nicht.
Norbert Eschborn leitet das Korea-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Seoul.