"Es gibt nur noch Schwarz und Weiß"
3. März 2017Am 15. Juli 2016 änderte sich alles. Für die Menschen in der Türkei, aber auch für viele in Deutschland. "Es gibt beste Freunde, die nach dem Putschversuch Feinde geworden sind. Ich höre immer wieder von Paaren, die sich haben scheiden lassen. Das sind Dimensionen, die sich vorher keiner so vorgestellt hat", sagt Serap Güler, CDU-Abgeordnete des nordrhein-westfälischen Landtags und Tochter türkischer Einwanderer (Artikelbild).
Wie jede Diaspora ist die türkische Gemeinschaft in Deutschland vielfältig. Ihre Mitglieder sind Frauen und Männer, Studenten und Rentner, Homo- und Heterosexuelle, Atheisten und Gläubige, Arbeitslose und Topverdiener. Politisch scheint es seit dem 15. Juli des vergangenen Jahres aber nur noch zwei Lager zu geben. "Früher gab es hier Aleviten, Sunniten und so weiter. Jetzt gibt es nur noch Schwarz und Weiß: Entweder ist man für oder gegen Erdogan. Und wenn man sich als Erdogan-Kritiker outet, ist man entweder Terrorist, Landesverräter oder wird beschuldigt, sich bei der deutschen Community anzubiedern", sagt Güler.
"Bedrohungen, Beleidigungen, Beschimpfungen"
Keine Grautöne, kein Dazwischen: Die politischen Grabenkämpfe werden privat und öffentlich ausgetragen, Einschüchterungsversuche und Anfeindungen stehen an der Tagesordnung. Vor kurzem berichtete David Schraven, Geschäftsführer des Recherchezentrums Correctiv, von Morddrohungen seitens türkischer Nationalisten gegen Mitarbeiter der deutsch-türkischen Online-Plattform Özgürüz. Mehrere Reporter hätten das Projekt verlassen. "Es tut weh, wenn ein Journalist, der klug ist und engagiert, sagt, das sei ihm zu gefährlich", erklärte Schraven der "ZEIT".
Zwei Wochen davor sprach die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş im "Deutschlandfunk" von einer "starken Einschüchterungspolitik" durch die rechtsextremen "Grauen Wölfe" in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das jetzige Klima erinnere sie an die 80er Jahre. "Damals haben wir große Scheu und Ängste austragen müssen gegenüber islamistischen, rechtsnationalistisch, aber auch nationalistisch-religiös gemischten Gruppierungen", so Arteş.
Serap Güler sagt, sie selbst habe zwar keine Morddrohungen erhalten, "anders als beispielsweise Kollegen im Bundestag, die für die Armenienresolution gestimmt haben. Aber man wird immer zur Zielscheibe von Bedrohungen, Beleidigungen, Beschimpfungen, vor allem in den sozialen Medien." Türkischstämmige wie sie seien davon viel mehr betroffen als deutsche Kollegen, die die türkische Regierung kritisiert hätten.
Spätestens seit dem Putschversuch wird über die wachsende Lagerbildung in der deutsch-türkischen Community berichtet - und gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass mitten in Deutschland so erbittert über die Politik der AKP gestritten wird, dass Familien zerbrechen. "Für viele ist Erdogan jemand, der den kranken Mann vom Bosporus wieder stark gemacht und der Türkei endlich wieder eine Bedeutung gegeben hat", erklärt Güler. "Sie glauben gar nicht, wie gut es bei vielen ankommt, wenn ein türkischer Politiker wie Cavusoglu sagt, Deutschland müsse der Türkei auf Augenhöhe begegnen, sonst gäbe es die entsprechende Antwort. Die Menschen haben eine Sehnsucht nach Anerkennung und Wertschätzung und Erdogan ist in der Lage, diese Sehnsucht zu befriedigen."
Versäumnisse auf deutscher Seite?
Lange habe kein Politiker den Türken in Deutschland das Gefühl gegeben, dass sie in der Türkei wichtig seien. Erdogan habe dieses Vakuum gefüllt. Aber auch die deutsche Seite habe sich Jahrzehnte lang nicht um die in Deutschland lebenden Türken gekümmert, sagt die CDU-Politikerin. "Viele Türkischstämmige sind hier geboren und sozialisiert worden. Das ist richtig. Aber diese Menschen haben auch mitbekommen, wenn die Eltern oder Großeltern sich benachteiligt gefühlt haben."
Seit der Inhaftierung des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel und dem Streit um mögliche Wahlkampfauftritte türkischer Top-Politiker in Deutschland wird nun auch der Ton zwischen Berlin und Ankara von Stunde zu Stunde schärfer. Die Fronten zwischen den AKP-Kritikern und -Sympathisanten verhärten sich dadurch noch mehr. "Unter den Anhängern wird es so wahrgenommen: 'Schaut mal, jemand, der uns Demokratie beibringen will, meint jetzt, Auftritte verbieten zu müssen'. Das ist für viele ein Beweis, dass die Türkei systematisch von Deutschland unterdrückt werde. Das ist natürlich brandgefährlich und nutzt meines Erachtens beiden Seiten nicht", beklagt Güler.
Ginge es nach ihr, sollte die deutsche Politik über Parteigrenzen hinweg klarstellen: "Bevor Deniz Yücel und viele andere Journalisten, die zu Unrecht in der Türkei im Gefängnis sitzen, nicht freigelassen werden, ist keiner dieser Politiker in Deutschland willkommen". Ein Einreiseverbot hält die Politikerin aber für kontraproduktiv. "Das würde nur die Propaganda befeuern, die in der Türkei gegen Deutschland läuft".
Güler geht nicht davon aus, dass die Gräben unter den Deutsch-Türken bald überwunden werden können. Grund zur Hoffnung gebe es momentan wenig. "Ich bin eher besorgt", sagt die Abgeordnete. Sie wünsche sich, dass sich die Situation entschärft. "Es wäre schön, wenn einfach akzeptiert würde, dass Menschen unterschiedlicher Meinung sein können".