Ein Krieg, den so keiner wollte
14. März 2014Der Veranstaltungsort hätte passender kaum sein können: Das 1730 fertiggestellte Zeughaus in Berlin war einmal das größte Waffenlager Preußens. Heute befindet sich in dem barocken Prachtbau am Boulevard Unter den Linden das Deutsche Historische Museum (DHM). Gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt (AA) hatte das DHM am Freitag (14.03.2014) zu einer Historiker-Diskussion eingeladen. "Julikrise 1914 - schlafwandelnde Diplomaten?" lautete die Überschrift der zweiten von sieben geplanten Gesprächsrunden, bei denen die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Deutsche Welle Medienpartner sind.
Der Titel ist eine Anspielung auf das viel diskutierte Buch des australischen Historikers Christopher Clark: "Die Schlafwandler". So nennt er die für den Beginn des Ersten Weltkriegs verantwortlichen Politiker und Militärs. Das Wort Julikrise ist ein Synonym für die Eskalation nach dem Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo. Das Attentat war der Auslöser des Waffengangs zwischen dem deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn auf der einen Seite sowie Frankreich, Russland und Großbritannien auf der anderen.
Außenminister Steinmeier laufen "Schauer über den Rücken"
Die einführenden Worte sprach an diesem Abend der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Fragen von Krieg und Frieden, von der "Spaltung des Kontinents" seien zurückgekehrt, sagte der Sozialdemokrat angesichts der sich zuspitzenden Krim-Krise. Das lasse "den einen oder anderen Schauer über den Rücken laufen".
Steinmeier mahnte, sich durch die scheinbar historischen Parallelen nicht den Blick zu verstellen. An der Zuspitzung 1914, die in den Ersten Weltkrieg mündete, könne man sehen, was passiere, "wenn Gespräche nicht gesucht werden". Unter Anspielung auf den Titel der Veranstaltung empfahl der deutsche Chefdiplomat, nicht nur vom Versagen der Diplomatie zu reden, sondern auch vom Nutzen, "wenn sie mit den richtigen Instrumenten arbeitet".
Zugleich verteidigte Steinmeier die angekündigten Sanktionen gegen Russland. Allerdings dürfe man beim Versuch, eine Lösung zu finden, nicht in "Sackgassen" fahren, sondern müsse auch "Ausfahrten" suchen. Die Erinnerung an 1914 sei geeignet, in der Krim-Krise die richtigen Schlüsse zu ziehen. Anders ausgedrückt: Der Gesprächsfaden zwischen dem Westen und Russland dürfe auf keinen Fall reißen.
Christopher Clark setzt auf "selbstkritische Reflexion"
Durch die Einschätzung Christopher Clarks dürfte sich der deutsche Außenminister in seinem Kurs bestätigt fühlen. Der Cambridge-Professor kritisierte zwar die "verschärfte Rhetorik" auf russischer und amerikanischer Seite. Trotzdem rechne er nicht mit einem Flächenbrand. Russlands Präsident Wladimir Putin habe bislang "mehr gebellt als gebissen", und auch bei US-Präsident Barack Obama vernehme er inzwischen moderatere Töne. Clark vertraut 2014 in die Fähigkeit der Politiker zu "selbstkritischer Reflexion", die es 1914 nicht gegeben habe.
Der Erste Weltkrieg sei zu recht als "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden, sagte Clark. Ohne dieses verheerende Ereignis seien Faschismus, Nationalsozialismus, Oktober-Revolution und Holocaust nicht denkbar. Das große Interesse an 1914 auch 100 Jahre später erklärt sich der 54-Jährige mit der "Modernität des Geschehens". Rivalisierende Großmächte spielten damals wie heute eine maßgebliche Rolle. Gegenwärtig habe man es wieder mit einer "gefährlichen, multipolaren Welt" zu tun.
Kein "Freispruch" für Deutschland
In seinem Buch gelangt Christopher Clark zu der Einschätzung, Deutschland sei entgegen der weit verbreiteten Überzeugung in Historiker-Kreisen keinesfalls aggressiver gewesen als es die anderen Großmächte gewesen seien. Es gehe nicht um einen "Freispruch" für die deutsche Politik, aber der Krieg sei eine gemeinsame europäische "Frucht" gewesen. Clarks Kollege Gerd Krumeich sagte in der Diskussion mit spöttischem Unterton, diese These lasse "uns kollektiv aufatmen". Krumeich, Jahrgang 1945, bleibt bei seiner in Jahrzehnten gewachsenen Überzeugung, Deutschland sei die entscheidende kriegstreibende Kraft gewesen.
Nicht zuletzt wegen des aufstrebenden Russlands habe im Frühjahr 1914 unter Militärs die Parole "lieber jetzt als später" dominiert. Krumeich räumte zwar ein, dass alle Mächte am Wettrüsten beteiligt gewesen seien, aber Deutschland habe den "Zünder gedrückt". Clark entgegnete, Russland und Frankreich hätten die Spannungen auf dem Balkan für einen potenziellen Kriegsgrund gehalten. Die ewig junge Frage nach der "Kriegsschuld" wird weiter gestellt werden. Clarks kontroverses Buch "Die Schlafwandler" hat dafür einen erstaunlichen Impuls gesetzt.
Mit seinem Kollegen Krumeich ist er sich einig, dass die Brisanz des Jahres 1914 allgemein unterschätzt worden sei. Alle Beteiligten hätten einen Krieg "für drei Monate" vorbereitet, sagte Krumeich auf der Veranstaltung im Deutschen Historischen Museum. Die Mentalität in Politik und Militär sei damals die eines Angriffskriegs gewesen. Das sei der Unterschied zur heutigen Zeit, in der Angriffskriege verboten seien.
Nationalismus 1914 und 2014
Ganz zum Schluss brechen Clark und Krumeich noch eine Lanze für die Politiker des Jahres 1914: Das seien keine "Idioten" gewesen, es habe sich um gebildete Männer gehandelt mit ähnlichen Grundwerten, "europäischer" als die Eliten heute. Eine zunächst erstaunlich anmutende Behauptung, wenn man sich den ungeheuren Nationalismus und Chauvinismus der damaligen Zeit in Erinnerung ruft. Man kann es aber auch so sehen: Erschreckend, wie stark nationalistische Strömungen trotz der grausamen Erfahrungen des Ersten (und des Zweiten) Weltkriegs gerade dieser Tage wieder sind - nicht nur rund um die Krim.