Erste Bewährungsprobe für Suga
15. Dezember 2020Japans Schriftzeichen des Jahres lautet "Mitsu"(密) und bedeutet Dichte oder Enge. Es steht für eine nationale Kampagne, wie die Bürger das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus senken können. Dafür sollen sie geschlossene, schlecht belüftete Räume wie Büros, Kaufhäuser und Restaurants, überfüllte Orte wie U- und S-Bahnen und Nahkontakte etwa bei Gesprächen vermeiden.
Die Beachtung dieser drei Regeln gegen Enge sowie das massenhafte Tragen von Masken und der Fokus auf Cluster-Infektionen haben der Inselnation bei der Eindämmung der Seuche stark geholfen. Trotz des Verzichts auf Massentests und harte Lockdowns schneidet Japan im internationalen Vergleich mit bislang 182.000 Infektionen und 2.500 Toten weit besser ab als viele westliche Länder.
Allerdings ist die japanische Strategie gerade an ihre Grenzen gestoßen. Am Wochenende registrierten die Behörden erstmals mehr als 3.000 Neuinfektionen an einem Tag. Wie in anderen Ländern hängt der starke Anstieg mit dem Winter zusammen, weil sich die Menschen länger in Innenräumen aufhalten. Aber die Krise hat auch hausgemachte Ursachen.
Schon vor Wochen konstatierte der Top-Virologe Hitoshi Oshitani, dass die Japaner pandemiemüde geworden seien. Dadurch ist die Bereitschaft zur freiwilligen Einschränkung gesunken. Am verlängerten Wochenende im November zum Beispiel bevölkerten die Bürger in großer Zahl Geschäfte und Parks. In der Hauptstadt Tokio ignorieren viele Restaurants die Bitte von Gouverneurin Yuriko Koike, vorzeitig um 22 Uhr zu schließen.
Debatte über Wirtschaftshilfen
Die Regierung hat ihr Scherflein dazu beigetragen, dass viele Bürger die Ansteckungsgefahr weniger ernst nehmen. Denn ihre Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft wirken im Hinblick auf die drei Regeln gegen Enge kontraproduktiv. Mit der Kampagne unter dem Schlagwort "Go To Eat" subventionierte der Staat Restaurantbesuche und mit "Go To Travel" touristische Inlandsreisen von der Zugfahrt bis zur Übernachtung im Hotel. Allein für letztere Beihilfen spendiert die Regierung knapp 13 Milliarden Euro. Doch dadurch kommt es zu mehr Bewegungen und Kontakten der Menschen im öffentlichen Raum. Letztlich erhöhen diese Hilfsmaßnahmen die Ansteckungsgefahr.
Premierminister Yoshihide Suga hatte sich die "Go To"-Kampagnen persönlich ausgedacht, als er noch Kabinettssprecher für seinen Vorgänger Shinzo Abe war. Möglicherweise zögerte Suga deswegen lange, auf die stark steigenden Infektionszahlen zu reagieren. Erst am Montag (14.12.) rang sich der 72-jährige Regierungschef dazu durch, das "Go To Travel"-Programm für die Zeit vom 28. Dezember bis 11. Januar außer Kraft zu setzen. In dieser Zeit haben die meisten Unternehmen geschlossen, so dass viele Japaner verreisen. Doch nun sollen sie über Neujahr, das in der Bedeutung mit Weihnachten in Deutschland vergleichbar ist, zu Hause bleiben und auf familiäre Zusammenkünfte verzichten. Das könnte funktionieren. Gemäß einer Umfrage des TV-Sender NHK wollen 81 Prozent auf Neujahrsreisen verzichten.
Wachsende Unzufriedenheit
Nach Ansicht von politischen Beobachtern schwenkte Suga schließlich um, weil sich seine Umfragewerte stark verschlechtert haben. Die Zustimmungsquote für seine Regierung fiel laut der NHK-Umfrage von 62 Prozent bei seiner Amtsübernahme im September auf zuletzt 42 Prozent, während die Kritikerquote von 13 Prozent auf 36 Prozent kletterte. Auch die Ursache ließ sich identifizieren.
Gemäß einer Umfrage des PR-Unternehmens Kekst CNC unterstützt nur jeder fünfte Japaner die Strategie von Suga, das Wohlergehen der Wirtschaft über den Infektionsschutz zu stellen. Dieses Ergebnis bestätigt auch eine Befragung der Zeitung Mainichi am Wochenende, wonach lediglich 14 Prozent der Japaner mit den staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie zufrieden sind.
Der langjährige Premierminister Shinzo Abe hatte die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung mehrmals ignoriert, um wichtige politische Vorhaben durchzusetzen. Aber Suga kann nicht auf diese Weise regieren, da er lediglich durch den Rücktritt von Abe an die Macht gekommen ist und bis spätestens Oktober 2021 eine Parlamentswahl gewinnen muss. Auch verdankt Suga sein Amt einer Absprache seines Vorgängers mit den Faktionen der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP).
Suga selbst verfügt über keine eigene Hausmacht bei den Liberaldemokraten. Daher dürfte es den Premier alarmiert haben, dass Japans größte Tageszeitung Yomiuri ihn überraschend angriff und schrieb, er hätte schon vor drei Wochen handeln müssen. In den Jahren von Premier Abe hatte die Yomiuri Shimbun die LDP-Regierung immer rückhaltlos unterstützt.