Ungarn: "Beende den kalten Bürgerkrieg!"
30. März 2020György Dalos, Jahrgang 1943, ist einer der bekanntesten zeitgenössischen ungarischen Schriftsteller. Der studierte Historiker geriet früh in Konflikt mit dem realsozialistischen Regime und wurde 1968 im berüchtigten ungarischen "Maoistenprozess" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In den 1970er Jahren zählte er zu den Mitbegründern der demokratischen Opposition in Ungarn. Wegen seines Publikationsverbots arbeitete er als Übersetzer. In Deutschland wurde er ab Ende der 1970er Jahre bekannt mit Werken wie "Meine Lage in der Lage", "Neunzehnhundertfünfundachtzig" oder "Die Beschneidung". Er erhielt in Ungarn und Deutschland zahlreiche Literatur-Preise sowie das Bundesverdienstkreuz. Dalos lebt in Berlin.
DW: Das ungarische Coronavirus-Gesetz hat international bereits viele Schlagzeilen gemacht. Es gibt der Regierung die Möglichkeit, unbefristet mit Dekreten zu regieren. Wird in Ungarn jetzt die Diktatur eingeführt?
György Dalos: Nein, es ist etwas nuancierter. Zum einen geht es natürlich darum, dass Ungarn, wie auch ganz Europa und die ganze Welt, von einer schweren Epidemie betroffen ist. Im Kampf gegen diese Pandemie braucht die Regierung gewiss besondere Befugnisse. Ob sie aber in dieser Situation ein Ermächtigungsgesetz braucht, bezweifle ich. Unsere Regierung verfügt im Parlament über eine Zwei-Drittel-Mehrheit und kann praktisch alles tun, was sie zur Bekämpfung der Pandemie tun muss. Alles andere ist Politik.
Was die Einführung einer Diktatur angeht, so denke ich, dass man dazu ein bisschen mehr braucht als nur so ein Gesetz. Ich selbst habe ja lange in der realsozialistischen ungarischen Diktatur gelebt, so etwas ist heute nicht mehr möglich. Mein Problem ist aber nicht, ob in Ungarn eine klassische Diktatur entsteht oder nicht, sondern ob überhaupt noch eine echte Demokratie im Land möglich ist. Das Demokratiedefizit war in Ungarn bereits vor der Pandemie sehr groß. Viktor Orbán und seine Partei brauchen keine direkte, offene Diktatur, um die Demokratie noch weiter zu kompromittieren und kaputtzumachen, als es jetzt schon der Fall ist.
Ein Teil der Beobachter in Ungarn ist der Ansicht, dieses Gesetz sei nur ein politisches Spiel Orbáns, um die Opposition zu diskreditieren, indem man sagen kann, sie helfe nicht bei der Bekämpfung der Pandemie. Was denken Sie?
Eigentlich wäre es in der jetzigen Situation eines Ausnahmezustands doch normal, wenn so ein Gesetz zusammen mit der Opposition verabschiedet werden würde. Aber unsere Regierung hat mit der Opposition in den vergangenen zehn Jahren nicht einmal eine Tasse Kaffee getrunken. Der jetzige Parlamentspräsident László Kövér sprach vor vielen Jahren einmal davon, dass im ungarischen politischen Leben ein kalter Bürgerkrieg herrsche. Heute ist diese Konfrontation besonders gefährlich. Bildlich gesehen sitzen Regierung und Opposition in ein- und derselben Quarantäne und husten aufeinander los. Also bitte, liebe Regierung, beende den kalten Bürgerkrieg, der jetzt herrscht, und verhandelt mit der Opposition! Selbst wenn sie euch unsympathisch erscheint, so vertritt sie doch Millionen von Staatsbürgern. Also bitteschön!
Finden Sie es akzeptabel, dass die Oppositionsparteien sich geweigert haben, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen?
Die meisten Oppositionsparteien sind ja bereit gewesen, ihre Zustimmung unter bestimmten Bedingungen zu geben. Sie wollten bestimmte Garantien wie beispielsweise eine Frist für das Gesetz. Die Opposition hat in der Parlamentsdebatte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Regierung geäußert. Leider hat das nichts genutzt.
Kritiker haben der ungarischen Regierung zu Beginn der Corona-Epidemie ein schlechtes Krisenmanagement vorgeworfen. Benutzt die Orbán-Regierung die Debatte um das Gesetz, um von den Problemen abzulenken?
Das ist schwer zu sagen. Fest steht jedenfalls, dass die Regierung eine Reihe von Fehlern gemacht hat und Ungarn auf die jetzige Situation nicht gut vorbereitet ist. Es gibt zu wenig Testmöglichkeiten, Schutzmasken und Beatmungsgeräte, und das ist momentan das wirkliche Problem des Landes. In den vergangenen Tagen ist das Krisenmanagement besser geworden. Die wirklichen Versäumnisse der Regierung liegen in den vergangenen zehn Jahren. Das Gesundheitswesen ist vernachlässigt worden, das ist jetzt die Hypothek der Orbán-Regierung. Ich will damit nicht sagen, dass vor Orbán alles in Ordnung war. Aber unsere jetzige Regierung hat dem Gesundheitswesen in den vergangenen zehn Jahren keine wirkliche Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Regierung weist die in- und ausländische Kritik an dem Ermächtigungsgesetz entschieden und empört zurück und sagt, das Gesetz gelte ausschließlich in der jetzigen Notsituation und werde die ungarische Demokratie nicht beeinträchtigen. Finden Sie das glaubwürdig?
Nein. Wenn die Regierung das wirklich ernst meinen würde, dann hätte sie in dieses Ermächtigungsgesetz eine Frist einbauen müssen. Ich wünsche der Regierung wirklich aufrichtig jeden Erfolg bei der Bekämpfung der Pandemie, aber diese Art der Ausweitung ihrer Vollmachten geht meines Erachtens zu weit.
Es gibt im Gesetz auch einen neuen Straftatbestand: Die Verbreitung von Falschnachrichten oder die verzerrte Darstellung von Fakten zum Zwecke des Beunruhigens großer Bevölkerungsgruppen. Darauf stehen mehrjährige Gefängnisstrafen. Auch hierbei weist die Regierung die Kritik zurück, dass sie die Medienfreiheit einschränken wolle. Wie beurteilen Sie das?
Nun, man braucht sich ja nur die vergangenen zehn Jahre der ungarischen Medienpolitik anzuschauen. Inzwischen gehören 90 Prozent der Medien in Ungarn der Regierung. Wenn es der Regierung wirklich darum geht, ausschließlich falsche und gefährliche Nachrichten zur Pandemie zu verhindern, dann müsste sie das sehr viel detaillierter formulieren und dann müssten die gesetzlichen Hürden gegen die Einschränkung der Medienfreiheit sehr viel deutlicher werden.
Sie haben in einem Gespräch mit mir vor einigen Jahren einmal gesagt, Ungarn sei keine Diktatur, sondern nur eine sehr, sehr schlechte Demokratie. Wie sehen Sie das gegenwärtig?
Ich sehe das noch immer so. Ungarn ist keine Diktatur, Ungarn ist eine sehr, sehr schlechte Demokratie. Inzwischen ist es auch eine Demokratie, die von einer Naturgewalt bedroht wird, eine Demokratie in der Situation einer weltweiten Pandemie. Das bedeutet auch, dass Ungarns Schicksal jetzt mehr denn je mit Europa verknüpft ist. Unsere Regierung hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gegen dieses Europa und die Europäische Union geäußert. Ich denke, jetzt wäre es an der Zeit, diese Rhetorik zu beenden und zu sagen, wir gehören zu diesem Kontinent und erleiden alle dieselben Probleme, weltweit. Ungarn allein kann diese Gefahr nicht nur nicht meistern, sondern sie nicht einmal wirklich unter irgendeine Kontrolle bringen. Ungarn und wir alle brauchen die Europäische Union mehr denn je.