Erinnerungen an Auschwitz
13. Juni 2017Deutsche Welle: Herr Pivnik, Sie sind 90 Jahre alt. Warum haben Sie sich erst kürzlich dazu durch gerungen, ein Buch über ihre Jugend in Auschwitz und das Leben danach zu schreiben? Warum nicht schon viel früher?
Samuel Pivnik: Unmittelbar nach dem Krieg interessierte sich erst einmal niemand für unsere Geschichten. Als mein guter Freund David Breuer-Weil meinte, ich habe der Menschheit gegenüber die Verpflichtung, meine Geschichte zu erzählen, begann ich mit dem Schreibprozess. Das war 1999. Aber ich bin kein Schriftsteller. Erst als mich 2011 mein Agent mit dem Ghostwriter Mei Trow zusammenbrachte, interessierten sich auch größere Verlage für meine Memoiren.
Ihre Geschichte beginnt in Będzin. Ihr Geburtsort ist nur rund 50 Kilometer von der Stadt Oświęcim entfernt, in der die Nazis das größte Konzentrations- und Vernichtungslager bauten: Auschwitz. Sie gehörten zu den wenigen Menschen, denen schon früh Gerüchte über das Todeslager zu Ohren kamen – nämlich im Sommer 1942. Was genau hörten Sie - und was glaubten Sie davon zu diesem Zeitpunkt?
Ich erinnere mich an die Züge, die durch unsere Stadt ratterten. Viehwaggons mit winzigen Fenstern, hinter denen ich Männer mit langen Bärten und Frauen erkannte, die nach draußen blickten. Sie sahen ängstlich und orientierungslos aus. Ich hörte auch Gerüchte über ein Todeslager in der Nähe von uns. Aber unschuldig und naiv wie ich mit 14 Jahren war, zählte ich nicht zwei und zwei zusammen. Ich glaube, jemand sagte uns, dass es sich um russische Kriegsgefangene handele und damit tat ich es ab. Wir hörten auch andere Gerüchte, aber meine Eltern weigerten sich, diese zu glauben. Für sie war es unvorstellbar und absurd, dass Menschen ein Schlachthaus industriellen Ausmaßes errichten könnten, um andere Menschen zu töten. Meine Eltern waren anständige Menschen und ich glaube, sie realisierten nicht, dass diese Gerüchte stimmten, bis zu dem Moment ihres eigenen Todeskampfes, als das Zyklon B sie erstickte.
Sie schreiben in ihrem Buch: “Der schreckliche Schmerz hat die Erinnerung des exakten Tages gelöscht.” Wie schwer ist es, sich an diese Ereignisse vor mehr als 70 Jahren zu erinnern?
Viele Erinnerungen aus dieser Zeit sind noch immer gestochen scharf, auch wenn es mir unmöglich ist, die exakten Daten zu erinnern. Aber wenn vor den eigenen Augen eine Grausamkeit geschieht, brennt sich dies unweigerlich ins Gedächtnis ein. Der Schmerz der Erinnerung geht nie vorbei. Ich versuche mein Bestes, an manche Ereignisse nicht zu denken, aber es ist schwer.
Wenn vor ihren Augen jemandem der Kopf buchstäblich zu Brei getreten wird, dann gräbt sich die Erinnerung an das Gehirn dieses Mannes, tief ein. Niemand kann einen Charakter wie Karel Kurpanik, den ich in meinem Buch beschreibe, vergessen. Dieser Mann war ein Leichenschänder, den ich im Umgang mit uns Gefangenen in seinem Element erleben durfte. Er nahm jede Gelegenheit wahr, einen Schädel zu brechen. Jemandem beim langsamen Sterben zuzusehen, bereitete ihm die größte Freude. In einem Umfeld wie diesem werden die Sinne taub, man vergräbt den Schmerz irgendwo im Unterbewusstsein. Jahre später kommt er in Form furchtbarer Alpträume zurück, die mich bis heute heimsuchen. Diese Erinnerungen werden mich für immer verfolgen.
In Auschwitz wurde ihnen die Nummer 135913 brutal in den Arm tätowiert. Auch dies beschreiben Sie in ihrem Buch. Die Nummer befindet sich noch immer auf ihrem Unterarm. Wie schauen Sie heute darauf?
Ich weiß, ich sollte nicht mit meiner Nummer prahlen. Aber es handelt sich um eine der ganz frühen Nummern aus Auschwitz-Birkenau. Ich kenne sehr wenige Menschen mit einer niedrigeren Nummer als meiner, die Auschwitz überlebt haben. Überlebende führen untereinander manchmal diese sehr ungesunden Unterhaltungen, in denen Vergleiche gezogen werden, wer am meisten gelitten hat. Umso niedriger die Nummer, umso mehr hat man gelitten. Dies stimmt natürlich nicht immer, aber ich gebe zu, ich bin ein wenig stolz auf meine Nummer.
Man merkt ihrem Buch an, dass Sie viel recherchiert haben, um Ihre eigene Erinnerung durch Fakten zu ergänzen. Warum war Ihnen diese historische Untermauerung wichtig?
Ich habe das Schrecklichste gesehen, zu dem Menschheit fähig ist. Ich wollte das große Ganze verstehen. Es war mir wichtig, die Ereignisse, deren Zeuge ich geworden war, in den größeren politischen Kontext zu setzen, damit der Leser versteht, was in einer Gesellschaft geschehen muss, damit sie zu so etwas fähig ist. Es ist wichtig, die Zeichen zu erkennen, um so etwas zu verhindern, bevor es zu spät ist.
Sie erzählen auch die Geschichte von Alfred Rossner, der in Bedzin für mehr als 10.000 jüdische Arbeiter verantwortlich war. Er stattete einen Teil Ihrer Familie mit Dokumenten aus, die bestätigten, dass sie kriegswichtige Arbeit leisteten und somit nicht deportiert werden durften. Wollten Sie zeigen, dass es möglich ist, auch in schrecklichen Zeiten menschlich zu bleiben?
Genau so ist es. Ich werde Alfred Rossner auf alle Ewigkeit dankbar sein. Er sorgte dafür, dass meine Familie viel länger zusammen blieb als dies sonst der Fall gewesen wäre. Er half ins Besondere meinem Vater und meiner älteren Schwester, noch lange in seiner Schneiderfabrik zu arbeiten. Für sein Mitgefühl wollte ich ihm unbedingt Tribut zollen. Er kümmerte sich, während die Herrschenden versuchten, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass bestimmte Menschen zu Opfern gemacht und erniedrigt werden sollten. Es gab neben ihm auch andere Menschen, die uns Juden halfen und ihr eigenes Leben riskierten. Killov zum Beispiel, dem eine Möbelfabrik gehörte, in der ich arbeitete und sein Manager, Herr Häuber. Sie schützten mich solange es ging. Diese Menschen brachten helles Licht in das Dunkel dieser Zeit.
Sie sind einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Fühlen Sie eine Art Verpflichtung oder sogar eine Bürde, ihre Geschichte an die nachfolgenden Generationen weitergeben zu müssen?
Ich würde es nicht als Last bezeichnen. Ich war nie verheiratet und habe keine Kinder. Ich habe nicht viel erreicht mit meinem Leben. Ich freue mich, dass ich dieses Buch geschrieben habe, da ich damit endlich etwas zur Menschheit beigetragen habe, dass von dauerhaftem Wert ist. Dass es so erfolgreich ist und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, hat mir in meinen späten Jahren noch ein Gefühl der Zufriedenheit verschafft. Und das wichtigste: es wird die Erinnerung an meine geliebten Eltern, Brüder und Schwestern erhalten, ebenso wie an tapfere Seelen wie Rossner, Killov und Herr Häuber.
Sam Pivniks Familie lebte vom Frühjahr 1943 bis zum 6. August 1943 im Ghetto in Bedzin, als die Familie ins KZ Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Sein Vater, seine Mutter, die Schwester und drei Brüder wurden sofort nach ihrer Ankunft ermordet. Seine ältere Schwester überlebte nur 10 Tage.
Das Gespräch führte Sarah Judith Hofmann
Sam Pivnik: Der letzte Überlebende. Wie ich dem Holocaust entkam. Theiss Verlag. 19,95 Euro.