Erfolgreicher Druck aus Brüssel
15. September 2004Die Art, wie die umstrittene Einführung eines gesetzlichen Ehebruchverbots in der Türkei doch noch von der Tagesordnung gekippt wurde, wirkt nicht gerade souverän: Erst hieß es trotzig aus Ankara, das Gesetz werde auf jeden Fall eingeführt - trotz aller Proteste von türkischen Frauenrechtlerinnen. Dann aber beugte sich die islamisch-konservative Regierungspartei einem immer stärkeren Druck aus Brüssel, und nahm Mitte September in letzter Minute Abstand von dem Vorhaben.
Warum sie das tat, ist klar: Anfang Oktober wird die Europäische Kommission einen Türkei-Bericht veröffentlichen, der mit darüber entscheiden wird, ob die EU bald Beitrittsverhandlungen mit Ankara aufnehmen wird. Haftstrafen für Ehebrecher würden in einem solchen Bericht gewiss nicht positiv erwähnt. Und da das Fernziel EU-Beitritt in der Türkei parteiübergreifend als "heilig" gilt, beschloss man schließlich, sich selbst nicht unnötig Steine in den Weg zu legen.
Dieser Vorgang zeigt zweierlei. Erstens: Die EU ist inzwischen zu einem der bedeutendsten Akteure in der türkischen Innenpolitik geworden - immerhin kann sie am Bosporus sogar Gesetzesvorhaben kippen. Und zweitens: Die Politik der türkischen Regierung unter dem ehemals strammen Islamisten Recep Tayyip Erdogan muss trotz vieler bemerkenswerter demokratischer Fortschritte stets kritisch beobachtet werden. Denn Erdogan ist beides: Ein Regierungschef, der Ankara näher an die EU herangeführt hat als jeder seiner Vorgänger. Aber eben auch ein Politiker, den weite Teile der westlich orientierten Elite in der Türkei in Verdacht haben, heimlich und über den Umweg der EU eine Islamisierung des Landes anzustreben.
Der Versuch, einen rückständigen Ehebruchverbot-Paragraphen in ein ansonsten absolut fortschrittliches Reformpaket einzuschmuggeln, könnte Ausdruck einer solchen Gesinnung sein. Könnte - muss aber nicht. Eine andere Erklärung wäre, dass die Regierung tatsächlich - wie von ihr behauptet - die im ländlichen Raum noch verbreitete Vielehe bekämpfen und somit vor allem Frauen schützen wollte. Allerdings ist Polygamie in der Türkei ohnehin verboten - hierfür würde es ausreichen, die bestehenden Gesetze schärfer anzuwenden. Am wahrscheinlichsten scheint somit, dass das Ehebruchverbot der traditionellen Wählerschaft von Erdogan den gesamten Reformkurs versüßen sollte. Denn Erdogan hat bisher zwar viel für sein Land, aber wenig für seine traditionelle Wählerschaft erreicht, die zum Beispiel auf eine Aufhebung des Kopftuchverbots in Schulen, Universitäten und anderen staatlichen Einrichtungen drängt. Jetzt kann er seinen Anhängern sagen: Ich habe es wenigstens versucht.
Ehebruch mit Gefängnis zu bestrafen - das wäre aus europäischer Sicht nicht hinnehmbar gewesen in einem Land, das in die EU strebt. Ebenso klar ist, dass der Staatspräsident dieses Gesetz auch niemals unterzeichnet hätte. Jetzt ist die Sache vom Tisch und gibt endlich den Blick frei auf jene Reformen, auf die es wirklich ankommt: Konsequentere Bestrafung von folternden Polizisten, Strafbarkeit von Vergewaltigung auch in der Ehe, Ausweitung der Meinungsfreiheit: Wichtige Fortschritte, die das türkische Parlament nun auch schnellstmöglich absegnen sollte.