Erfolg nach 80 Jahren: Roman über die NS-Zeit
24. Mai 2021Der Kaufmann Otto Silbermann flieht aus Berlin. Seine jüdischen Bekannten sind bereits von den Nazis verhaftet worden, und nun reist er in Zügen durch Deutschland, das zu verlassen ihm letztlich nicht gelingt.
"Der Reisende" ist ein 1938 geschriebener Roman von Ulrich Alexander Boschwitz, der als Sohn eines jüdischen Vaters bereits 1935 mit seiner protestantischen Mutter aus Deutschland ins Exil gegangen war, erst nach Schweden, später nach Norwegen und England.
Kurz zuvor waren die Nürnberger Gesetze erlassen worden, die Antisemitismus und Rassismus juristisch legitimierten. Boschwitz' Vater war schon gestorben, die Schwester bereits 1933 nach Palästina ausgewandert.
Plötzlich ein Bestseller
Im Exil schrieb Boschwitz den Roman "Der Reisende", der bereits sein zweites Buch war und 1939 in Großbritannien erschien. Zu einem Erfolg reichte es nicht. Als der Roman 2018 schließlich erstmals auf Deutsch erschien, wurde er als literarische Entdeckung gefeiert. Inzwischen ist er in zwanzig Sprachen übersetzt und weltweit veröffentlicht worden. Die britische "Sunday Times" führt die englische Übersetzung "The Passenger" aktuell auf ihrer Bestseller-Liste.
Dafür mitverantwortlich ist der Verleger Peter Graf. Er hat sich in den vergangenen Jahren als Spürnase für vergessene oder übersehene Bücher einen Namen gemacht - an erster Stelle mit "Blutsbrüder" von Ernst Haffner. Der 1932 erstmals veröffentlichte Roman begleitet männliche Minderjährige und junge Erwachsene, die sich in der Weimarer Republik prostituieren, um zu überleben. Eine ungeschönte Erzählung und ein beeindruckendes Zeitzeugnis, das 2013 neu aufgelegt wurde.
Eben diesem Buch verdankt auch "Der Reisende" seine Neuauflage: Nachdem "Blutsbrüder" auf Hebräisch erschienen war, hatte Boschwitz' in Israel lebende Nichte Reuella Sachaf in einer Tageszeitung ein Interview mit Peter Graf gelesen und Kontakt aufgenommen.
Sie erzählte ihm von ihrem Onkel und dem Manuskript, das im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main lag. Zwei Tage habe er dort gelesen und schnell gewusst: "Das hat großes Potenzial", erzählt Peter Graf.
Auf Wiederentdeckungen spezialisiert
Graf übt drei Funktionen aus. Mit seiner Agentur Walde + Graf konzipiert er Bucheditionen für Auftraggeber, als Herausgeber publiziert er Romane wie "Der Reisende" in Zusammenarbeit mit Verlagen. Und er ist selbst Geschäftsführer des kleinen Verlages Das kulturelle Gedächtnis.
Der Berliner Verlag hat sich auf Wiederentdeckungen spezialisiert, ohne sich auf ein Spektrum oder eine bestimmte Zeit festzulegen. Neben Susanne Kerckhoffs "Berliner Briefe" von 1948 finden sich im Verlagsprogramm auch Werke von Dante und Voltaire. Nur acht Bücher werden pro Jahr verlegt. "Eine Nische", sagt Peter Graf. Die Liebhaber-Tätigkeit erhielt 2020 den Deutschen Verlagspreis.
Peter Graf sagt, er habe schnell erkannt, dass "Der Reisende" für den eigenen Verlag zu groß sein würde. Der Roman erschien dann beim Stuttgarter Verlag Klett-Cotta - wie ein Jahr später auch Boschwitz' Debüt "Menschen neben dem Leben".
Seine Faszination ziehe das Buch aus seiner Sprachgewalt, sagt der Verleger. "Außerdem ist es die früheste literarische Auseinandersetzung mit den November-Pogromen." Obwohl uns vieles aus der Zeit des Nationalsozialismus bekannt sei, habe "Der Reisende" eine dramaturgische Anbindung an die Gegenwart.
Gräueltaten mit mehreren Millionen Opfern seien für die eigene Vorstellungskraft zu abstrakt, sagt Peter Graf. "Boschwitz' Geschichte ist zwar fiktional, aber das Einzelschicksal weckt eine Empathie-Bereitschaft beim Leser." Das Buch setze etwas frei - und eben das mache gute Literatur aus.
Vergessene Bücher
Carlos Ruiz Zafón setzte übersehenen oder in Vergessenheit geratenen Büchern mit seinem Welterfolg "Der Schatten des Windes" und dem darin beschriebenen Friedhof der vergessenen Bücher ein Denkmal. Doch warum werden Bücher überhaupt vergessen?
Es habe schon in der Weimarer Republik oder zum Ende des 19. Jahrhundert eine Flut von Büchern gegeben, weshalb nicht jeder Titel ein Erfolg habe werden können, erklärt Peter Graf. Und häufig sei Erfolg eben auch eine Frage des Glücks. Die englische Erstveröffentlichung des "Reisenden" etwa war Ende der 1930er Jahre noch nicht als Zeitzeugnis erkannt worden.
Es sei entscheidend, das "richtige Buch zur richtigen Zeit" zu veröffentlichen, meint Peter Graf, der herausfand, dass sich Heinrich Böll bereits in den 1960er Jahren um eine Veröffentlichung von Boschwitz' Roman bemüht habe. "Vielleicht kam diese Auseinandersetzung mit dem Holocaust aber in der jungen Bundesrepublik zu früh."
Kritiken aus den 1920er Jahren
Dass die Verwandte eines Schriftstellers aktiv auf ein Manuskript aufmerksam macht, ist ein Glücksfall für den Verleger - aber auch die Ausnahme. Auf der Suche nach vergessenen Büchern, die neu aufgelegt gehören, forscht Peter Graf in Literaturarchiven, schreibt Karteikarten mit Querverweisen, durchforstet Literaturverzeichnisse, liest Rezensionen aus den 1920er Jahren.
Neuauflagen bräuchten Anknüpfungspunkte an die Gegenwart, sagt Peter Graf. "Der Reisende" habe Parallelen zur gegenwärtigen Migration. Auch die Pandemie führe zu existenziellen Fragestellungen. "Wir leben in schwierigen Zeiten und müssen unsere Komfortzone verlassen." Vielleicht würden Leserinnen und Leser deshalb nach historischen Stoffen suchen, die Antworten geben könnten. "Ich glaube nicht, dass Literatur die Welt verändert", sagt Peter Graf, "aber sie kann die Leser für einen Moment sensibilisieren."