Erfolg der Einheit steht noch aus
9. November 2014Man muss sich das vorstellen: 400.000 Menschen wandern von Ost nach West. In nur einem Jahr. Das war 1989 im Jahr des Mauerfalls. Und ein Jahr später noch einmal 400.000. Einfach weg. Es ist eine regelrechte Fluchtbewegung aus den Gebieten der früheren DDR, der Deutschen Demokratischen Republik. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl steht unter Druck. Knapp drei Monate nach dem Mauerfall verkündet er für den 1. Juli 1990 die Währungsunion. Die Bürger der DDR sollten die D-Mark bekommen, ein Anreiz, in der Heimat zu bleiben. Das Geschenk hat bis heute seinen Preis.
Der damalige Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung schreibt am 9. Februar 1990 einen Brief an den "verehrten Herrn Bundeskanzler". Darin beknien die vier Ökonomen Helmut Kohl, vor einer Währungsunion eine Wirtschaftsreform in Aussicht zu stellen: "Wir halten die rasche Verwirklichung der Währungsunion für das falsche Mittel, um dem Strom von Übersiedlern Einhalt zu gebieten."
Das Ende der Konkurrenzfähigkeit
Doch Kohl übergeht die Bedenken der Ökonomen. Am 1. Juli 1990 werden laufende Zahlungen wie Löhne, Gehälter und Renten zum Kurs von eins zu eins auf die D-Mark umgestellt.
Das Umtauschverhältnis von eins zu eins spiegelt allerdings nicht die Produktivität der beiden Volkswirtschaften wider: Zum Ende der SED-Diktatur erreicht die Produktivität der DDR in etwa ein Drittel des West-Niveaus. Das Umtauschverhältnis bewirkt eine Aufwertung der Ost-Preise um ein Vielfaches.
Endgültig verlieren die ostdeutschen Betriebe ihre Wettbewerbsfähigkeit, nachdem Gewerkschaften und Arbeitgeber aus dem Westen im Frühjahr 1991 ostdeutsche Löhne verhandeln, was zu raschen Lohnsteigerungen führt. "Die eilten der Produktivitätsentwicklung größtenteils voraus", sagt Gerhard Heimpold vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), "das heißt, die waren eigentlich von den Unternehmen nicht zu verkraften."
Betriebe müssen aufgeben. Bis 2005 kostet der massive De-Industrialisierungsprozess mehr als eine Million Jobs, rechnet Heimpold vor. Bis 1997 steigt die Arbeitslosigkeit im Osten auf 17,7 Prozent. Viele, oft junge und gut ausgebildete Ostdeutsche gehen in den Westen. 2005 erreicht die Arbeitslosigkeit im Osten mit 18,8 Prozent ihren höchsten Stand.
Ein Hauch blühender Landschaft
2006 dann die Kehrtwende: Die Arbeitslosenzahlen sinken. 2013 erreicht die Arbeitslosenquote mit 10,3 Prozent den niedrigsten Stand seit 1991. Wer sich die Zahlen genauer ansieht, stellt fest, dass die einfache Unterscheidung in Ost und West nicht mehr genügt. Thüringen steht besser da als Nordrhein-Westfalen oder der Stadtstaat Bremen. Und einzelne ostdeutsche Städte und Landkreise mit Arbeitslosenquoten zwischen vier und sechs Prozent passen eher nach Bayern oder Baden-Württemberg.
Am beeindruckendsten jedoch ist der Wirtschaftsaufschwung der ersten fünf Jahre nach dem Mauerfall: Die Staatskasse der DDR war schlicht leer, dementsprechend groß war der Nachholbedarf bei Investitionen auf dem Wohnungsmarkt, in die Infrastruktur und bei Unternehmen.
Bis Mitte der 1990er-Jahre wächst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf so stark wie im westdeutschen Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und das bei einem wesentlich höheren Ausgangsniveau.
Nach Berechnungen des Ifo-Instituts Dresden belaufen sich die Finanztransfers aus dem Westen in wachstumsfördernde Maßnahmen zwischen 1991 und 2013 auf rund 560 Milliarden Euro. "Das war gut angelegtes Geld", sagt Heimpold. Heute sei die Kapitalausstattung im Produzierenden Gewerbe in Ostdeutschland besser als in Westdeutschland, die Infrastruktur modern, die ostdeutschen Innenstädte schick, und die Universitäten gut ausgestattet.
Strukturprobleme halten den Osten auf Abstand
Doch die Messgröße, in der sich das zweite deutsche Wirtschaftswunder ausdrückt, ist zugleich das Sorgenkind der Ökonomen. Denn nach der ersten Aufholjagd kommt die Stagnation: Die großen Investitionsziele sind abgearbeitet. Seit 20 Jahren gleichen sich die ost- und westdeutschen Werte kaum mehr an.
67 Prozent des Westniveaus hat der Osten bis heute beim BIP pro Kopf erreicht. Hundert Prozent Westniveau beim Bruttoinlandsprodukt brauche der Osten sicherlich nicht, sagt Klaus-Heiner Röhl vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (IW), "Aber 67 Prozent sind andererseits doch auch wieder ein ziemlicher niedriger Wert." Selbst Schleswig-Holstein erreiche als schwächstes westdeutsches Flächenland 82 Prozent. Wenigstens mit den westdeutschen Schlusslichtern sollte Ostdeutschland Röhls Meinung nach gleichziehen.
Auch Heimpold hält am Ziel weiterer Fortschritte bei der Produktivität fest: "Das ist schon allein deshalb angeraten, weil wir den demographischen Wandel haben, und eine kleiner werdende Zahl von Arbeitskräften den Wohlstand der Region und des Landes sichern muss." Doch genau das ist unheimlich schwierig, denn die Folgen der ökonomischen Weichenstellungen durch die Währungsunion haben sich heute zu einem hartnäckigen Strukturproblem ausgewachsen.
Von der gewaltigen De-Industrialisierung der Anfangsphase hat sich der Osten nie richtig erholt. Es regiert der Mittelstand. "Wenn wir uns Unternehmen mit 100 bis 250 Beschäftigen anschauen und dann nur diese Unternehmensklasse in Ost und West vergleichen, dann stellen wir fest, dass die wirtschaftlich ziemlich gleich stark sind", sagt Röhl vom IW. Trotzdem erreicht die ostdeutsche Produktivität nur drei Viertel des westdeutschen Niveaus.
Schlüssel zum Erfolg: mehr Innovation
Was im Osten fehlt, sind Großunternehmen. Sie sitzen alle im Westen und sie machen den Unterschied. Sie sind im Schnitt nicht nur produktiver, sie exportieren auch mehr und können dementsprechend schneller wachsen. Im Westen liegt die Exportquote bei knapp 50 Prozent, im Osten nur bei etwas über 30 Prozent. Und große Unternehmen forschen im Schnitt mehr, sind dementsprechend innovativer und wettbewerbsfähiger: Im Westen trägt die Privatwirtschaft rund 70 Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, im Osten nur 40 Prozent.
Natürlich könnten aus ostdeutschen Mittelständlern noch Großunternehmen werden. Doch das brauche Zeit, sagen Heimpold und Röhl.
Zeit aber hat der Osten nicht, denn ihm geht die arbeitende Bevölkerung aus. Die Abwanderung der gut qualifizierten Jungen hat das gesamtdeutsche Problem der Überalterung im Osten noch verschärft. Bereits zwischen 1990 und 2012 sank die Zahl der erwerbsfähigen Personen von 11,2 Millionen auf 10,1 Millionen Menschen. Im Westen blieb die Zahl hingegen weitgehend stabil. Bis 2030 soll im Osten die Zahl der Erwerbstätigen nochmal in Millionenhöhe zurückgehen. Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut Dresden befürchtet einen Mangel an Arbeitskräften und noch weniger Wachstum. "Die weitere Angleichung der Lebensverhältnisse kann dann sogar ins Stocken geraten."
Das einzige, was man gegen die demographische Entwicklung machen könne, sagt Röhl: Alle Prozesse müssten effizienter, wissensintensiver, innovativer werden. Damit könne man noch gegensteuern, gegen "eine Art Lethargie, die sich dann vielleicht breit macht."
Eine Herkulesaufgabe für einen Mittelstand. Meistert er sie, darf sich Deutschland über eine geglückte deutsch-deutsche Fusion freuen. Aber auch nur dann.