Erdogans Präsidialsystem - eine Bilanz
11. Juli 2020Der Reform des türkischen Regierungssystems ging eine monatelange Schlammschlacht zwischen Gegnern und Befürwortern voraus. Die Regierung argumentierte, dass mit dem neuen System Entscheidungen "schneller, effektiver und stabiler" gefällt werden könnten - zudem würde Bürokratie abgebaut werden. Die Opposition wiederum vertrat die Meinung, dass dieser Schritt zu einer "Ein-Mann-Herrschaft führen werde. Manche Kritiker sahen sogar in dem neuen Regierungssystem einen Sargnagel für die türkische Demokratie.
Beim Verfassungsreferendum im April 2017setzten sich die Befürworter hauchdünn gegen die Skeptiker durch: 51,4 Prozent Wähler kreuzten "evet" - "ja" - auf dem Wahlzettel an, ein Vorsprung von knapp drei Prozentpunkten gegenüber den ablehnenden Stimmen. Im Juli 2018 war es dann soweit: Das Präsidialsystem wurde eingeführt - das türkische Staatsoberhaupt hat seitdem so weitreichende Machtbefugnisse, wie niemals zuvor. Das Parlament in Ankara hat deutlich weniger Kompetenzen, als vor der Reform.
Erdogan regiert per Dekret
Die Meinungen zum Präsidialsystem gehen zwischen Opposition und Regierung auch heute noch klar auseinander: Während Präsident Erdogan und seine Regierung stets von mehr Effizienz sprechen, haben sich aus Sicht der Gegner die Befürchtungen bewahrheitet.
Ausschlaggebend für diese skeptische Haltung ist vor allem, dass Erdogan in den vergangenen zwei Jahren sehr häufig einen Aspekt seiner neuen Macht nutzte und seine Entscheidungen per Dekret durchsetzte: 64 Mal verfügte der türkische Präsident solchen Verordnungen, 2229 einzelne Gesetzesartikel boxte er durch - ganz ohne parlamentarische Beratung und Abstimmung. Zum Vergleich: Das türkische Parlament mit seinen 600 Abgeordneten hatte nur bei 104 Gesetzen - die insgesamt 1493 Artikel enthielten - ein Mitspracherecht.
Viele Kritiker sehen in den häufigen Dekret-Entscheidungen einen Beweis dafür, dass Erdogan seit der Einführung des neuen Regierungssystems eine übermächtige Position gegenüber dem Parlament eingenommen hat. Hinzu kommt, dass die Regierungskoalition aus Erdogans islamisch-konservativer AKP und der ultranationalen MHP eine deutliche Mehrheit im türkischen Parlament hat. Selbst bei denjenigen Gesetzesinitiativen, die dem Parlament vorgelegt werden, kann die Opposition leicht überstimmt werden.
Viele Oppositionspolitiker fühlen sich aufgrund dieses präsidentiellen Übergewichts entmachtet. Sie sehen ihre alleinige Hoffnung im türkischen Verfassungsgericht. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, hat sich immer wieder an das oberste türkische Gericht gewandt, um Dekrete des Präsidenten anzufechten: Seit Beginn des Präsidialsystems hat die CHP die Aufhebung von 64 Dekreten und 104 Gesetzen bei den Verfassungsrichtern beantragt. Doch die kleineren Parteien wie die nationalistische Iyi Partei oder die prokurdische HDP können sich nicht einmal dieses Mittels bedienen - sie haben zu wenige Abgeordnete und damit nicht das Recht, vor das höchste Gericht in Ankara zu ziehen.
"Keine Diskussionskultur mehr"
Der CHP-Abgeordnete und Verfassungsrechtler İbrahim Kaboğlu bezeichnet das neue System als "Monokratie", weil die gesamte Verwaltung auf eine Person zugeschnitten sei. "Der türkische Präsident gibt immer Anweisungen - seine Minister richten sich danach".
Dass das türkische Parlament durch die Verfassungsreform effizienter geworden sei, habe sich in den ersten zwei Jahren nicht bewahrheitet, kritisiert Kaboğlu. Besonders bedauernswert findet er es, dass es keine Diskussionskultur mehr gebe.
"Abgeordnete können im Parlament nicht mehr ihre Präferenzen und ihren Willen zum Ausdruck bringen. Gesetzesvorschläge werden nicht von den Abgeordneten vorbereitet, sondern von Bürokraten aus dem Präsidentenpalast".
Das Ende der Gewaltenteilung?
Der Vizerektor der Istanbuler Altınbaş-Universität, Ahmet Kasım Han, zieht ebenfalls eine negative Bilanz und sorgt sich um die Grundpfeiler der Demokratie: "Es existiert nun keine Gewaltenteilung mehr - zumindest nicht so, wie ich sie verstehe. Gewaltenteilung bedeutet nicht, dass man alleine regiert", kritisiert Han. Es müsse auch "Checks and Balances" geben - eine effektive Kontrolle der Machthaber.
Während sich Politiker von allen Oppositionsparteien fast geschlossen eine Rückkehr zum parlamentarischen Regierungssystem wünschen, scheint die Regierungskoalition genau in die entgegengesetzte Richtung gehen zu wollen: Seit Monaten heißt es von Regierungsvertretern, dass weitere Änderungen nötig seien. Man sei der Meinung, "dass zur Fortsetzung des Präsidialsystems dringend Reformen durchgeführt werden müssen", so der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli. Es sei jedoch noch nicht ganz klar, wie genau diese Reformen aussehen werden.
Die Opposition wünscht sich eine Rückkehr
Nach Angaben des Präsidentenpalasts will Recep Tayyip Erdogan in Kürze einen "Aktionsplan für das Halbjahr" vorstellen, der die Arbeit der präsidentiellen Behörden als auch der Ministerien betreffen werde. Verantwortlich für den Reformprozess sei der Vizepräsident der Türkei, Fuat Oktay. Er sagte der türkischen Presse, dass man sich in dem Prozess bereits in der Schlussphase befinde.
Kritiker gehen davon aus, dass dieser Reformprozess ein Versuch ist, das Präsidialsystem weiter zu zementieren und den Präsidenten, mit noch mehr Machtbefugnissen auszustatten. Für Oppositionspolitiker İbrahim Kaboğlu gibt es nur eine Lösung: Man solle das Präsidialsystem schnellstmöglich begraben. "Man kann nichts überarbeiteten, verbessern oder revidieren." Man müsse das jetzige System als ein historisches Experiment betrachten, es abschaffen und in der Türkei endlich wieder zur parlamentarischen Tradition zurückkehren.