Erdogans Rolle im Ukraine-Krieg
30. März 2022In der Türkei haben sich ein weiteres Mal ukrainische und russische Unterhändler auf Vermittlung Ankaras getroffen. Nach eigenen Angaben hat die Ukraine Russland bei den Verhandlungen ein neues System für Sicherheitsgarantien vorgeschlagen. Dabei werde auch die Türkei als einer der möglichen Hauptgaranten gesehen, teilte die ukrainische Delegation mit. Der stellvertretende russische Verteidigungsminister Alexander Fomin gab nach den Verhandlungen bekannt, dass sein Land militärische Aktivitäten bei Kiew und Tschernihiw "radikal" reduzieren werde.
Ob die Versprechen eingehalten werden, ist ungewiss. Dennoch ist das Treffen schon jetzt ein diplomatischer Erfolg für die Türkei, weil es Hoffnung gibt - Hoffnung auf eine Feuerpause in der Ukraine, Hoffnung auf eine Lösung.
Vor den Verhandlungen betonte der türkische Staatspräsident Erdogan, dass sein Land zwar keine offizielle Vermittlerrolle innehabe; dennoch sei Ankara bereit, Bedingungen zu schaffen, die den Friedensprozess unterstützten. Bereits vor dem Krieg hatte sich Erdogan wiederholt als Vermittler angeboten. Bei seinem russischen Amtskollegen Putin trafen seine Avancen allerdings auf taube Ohren.
Für den Russland-Experten und freien Publizisten Aydin Sezer ist dies keine Überraschung, denn Ankara habe sich bis zum Ukraine-Krieg trotz enger Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau deutlich auf die Seite Kiews gestellt. Die türkische Regierung habe mit der Ukraine Rüstungsgeschäfte abgewickelt und bei jeder Gelegenheit die Integrität und Souveränität des Landes verteidigt, so Sezer im Interview mit der DW. Somit habe Ankara zugunsten Kiew Partei ergriffen. Nach Putins Lesart sei sie nicht unabhängig, daher stoße Erdogans Angebot, als Vermittler zu agieren, in Russland auf Ablehnung, so Sezer.
In der Tat hatte der türkische Staatspräsident in den letzten Jahren immer wieder die volle Unterstützung seines Landes für die Ukraine betont und die Anerkennung der Krim als russisches Staatsgebiet abgelehnt. Zudem präsentierte Erdogan sich als Beschützer der muslimischen Krimtataren, für die Ankara Moschee- und Wohnungsprojekte auf die Beine stellte.
Zwischen den Stühlen
Seit Kriegsbeginn jedoch verfolgt Ankara eine vorsichtigere Linie als zuvor. "Aktive Neutralität" nennt der Staatspräsident Erdogan diese Haltung. In der Praxis heißt es, zu den beiden Ländern weiterhin enge Beziehungen zu pflegen, stets im Dialog zu bleiben und bloß keinen Fehler zu machen.
Für Beate Apelt von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul handelt der türkische Staatspräsident aus einer gewissen Notwendigkeit heraus. Apelt, die lange auch Projekte in der Ukraine leitete, findet, dass Ankara bisher sowohl zu Kiew als auch zu Moskau erfolgreiche Beziehungen pflegte. Auch in den Beziehungen zwischen der NATO und Russland habe die Türkei eine Sonderstellung eingenommen. Sollte der Krieg Ankara dazu zwingen, Farbe zu bekennen, stecke Erdogan in einem Dilemma, so Apelt, denn die Türkei sei einerseits als NATO-Mitglied gebunden, andererseits ist das Land von Russland in vieler Hinsicht abhängig.
Ankaras Beziehung zu Russland
Vor allem ist die Türkei abhängig von russischem Gas. Nach offiziellen Angaben bezieht die Türkei rund ein Drittel ihres Erdgasbedarfs aus Russland. Das erste türkische Atomkraftwerk in der südlichen Hafenstadt Mersin wird von der russischen Staatsfirma Rosatom gebaut. Russland ist für türkische Bauunternehmen der führende Auslandsmarkt, auch ein wichtiger Absatzmarkt für Landwirtschaftsprodukte aus Anatolien. Außerdem führte die Türkei im vergangenen Jahr nahezu 70 Prozent ihres Weizenimports aus Russland ein. Und Jahr für Jahr kommen rund 20 Prozent der Touristen in der Türkei aus Russland.
Beate Apelt beobachtet die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara seit Jahren. Sie weist darauf hin, dass Moskau die Handelsverflechtungen wiederholt zum Nachteil der Türkei genutzt hat, um ihr Missfallen über die türkische Unterstützung der Ukraine auszudrücken. 2021 habe Russland direkt nach einem Treffen Erdogans mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kommerzielle Flüge in die Türkei ausgesetzt. Immer häufiger seien in den letzten Jahren türkische Agrarprodukte wegen angeblicher Pestizid-Belastungen zurückgeschickt worden. Oft gebe es dabei einen zeitlichen Zusammenhang mit "unliebsamen" politischen Schritten aus Ankara.
Enge Wirtschaftsbeziehung zur Ukraine
Aber auch die Ukraine hat in den vergangenen Jahren mehr und mehr an Bedeutung für die Türkei gewonnen. Seit 2019 gehören türkische Unternehmen zu den wichtigsten Direktinvestoren in der Ukraine. Vergangenes Jahr war die Türkei mit einem Volumen von 4,5 Milliarden US-Dollar der größte ausländische Investor überhaupt. Nach Angaben von Burak Pehlivan, dem Vorsitzenden des Türkisch-Ukrainischen Unternehmensverbandes, waren vor Kriegsbeginn etwa 700 türkische Firmen in der Ukraine aktiv. Das bilaterale Handelsvolumen erreichte 2021 7,4 Milliarden US-Dollar. Erst am 3. Februar unterzeichneten Erdogan und Selenskyj feierlich ein Freihandelsabkommen mit dem Ziel, das Handelsvolumen auf 10 Milliarden Dollar jährlich zu steigern.
Ankara beliefert Kiew auch mit Waffen,etwa mit türkischen Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2Außerdem wurden zwischen Kiew und Ankara mehrere Abkommen für die Zulieferung etwa von Motoren und anderen Bauteilen für Kriegsschiffe und Kampfdrohnen unterzeichnet.
Wie lange wird die aktive Neutralität geduldet?
Aydin Sezer geht davon aus, dass die Türkei ihre gegenwärtige Linie der "aktiven Neutralität" weiterverfolgen wird. Auch Europa scheine derzeit mit der jetzigen Politik Ankaras zufrieden zu sein, sagt Sezer im Hinblick auf den intensiven diplomatischen Austausch mit Bundeskanzler Scholz, dem niederländischen Ministerpräsidenten Rutte und NATO-Generalsekretär Stoltenberg. Für Hüseyin Cicek von der Universität zu Wien ist die gegenwärtige Politik der Türkei eine kluge Entscheidung, denn Ankaras Unterstützung für die Ukraine bedeute zeitgleich eine "Drosselung geopolitischer Ambitionen Russlands in der gesamten Region". Unter anderem auch in Syrien, wo die Türkei für ihre Ziele auf das Wohlwohlen Moskaus angewiesen ist. Außerdem ermögliche die gegenwärtige Politik die Normalisierung der Beziehungen Ankaras zu seinen westlichen Verbündeten. Es bleibe also abzuwarten, ob Präsident Erdoğan den Ukraine-Krieg nutzt, um die politische Lage zu seinen Gunsten zu ändern, so Cicek.
Derzeit leidet die Türkei unter einer schweren Wirtschaftskrise, die auch auf Erdogans Niedrigzinspolitik zurückzuführen ist. Zuletzt lag die offizielle Inflation bei 54 Prozent. Die Regierungspartei AKP verliert ein Jahr vor den nächsten Wahlen immer mehr an Zustimmung. Eine geglückte Vermittlung zwischen Moskau und Kiew könnte Erdogan auch dabei helfen, diese Entwicklung zumindest aufzuhalten.