Erdogan, die EU und die Flüchtlinge
17. März 2020Aus Brüssel war er vergangene Woche noch vor der Pressekonferenz wieder abgereist, ohne das Treffen mit EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel zu kommentieren. An diesem Dienstag sollte eine kleine Delegation aus Europa nach Istanbul fliegen, um dort mit dem türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan über den Krieg in Syrien zu sprechen und - wie könnte in diesen Tagen auch anders sein - die Corona-Pandemie.
Gerade wegen des Virus, das gerade nicht nur Treffen im privaten Kreis unmöglich macht, sondern auch solche von Staats- und Regierungschefs, musste die Unterhaltung Erdogans mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Boris Johnson, dem Premierminister des Vereinigten Königreichs, per Video-Anruf stattfinden.
Und auch nach diesem Treffen der virtuellen Art war von Erdogan, was Inhalte betrifft, nicht viel zu hören, selbst wenn er der Erste aus der Viererrunde war, der sich danach zu Wort meldete. Um die humanitäre Lage in der umkämpften Rebellenhochburg Idlib sei es gegangen, teilte er auf Twitter mit.
Merkel: Ein "nützliches" Gespräch
Angela Merkel bezeichnete das Gespräch bei einer Pressekonferenz im Berliner Kanzleramt - gewohnt pragmatisch - als "nützlich". Mehr EU-Hilfen für die Türkei schloss die deutsche Kanzlerin nicht aus. Auch wolle man eine Zollunion mit der Türkei nicht aus den Augen verlieren, so Merkel. Außerdem habe die Türkei betont, Mitglied der NATO bleiben zu wollen.
Relativ milde Worte zu einer Beziehung, die seit Kurzem mehr als angeschlagen ist. Ende Februar hatte Erdogan die Grenzen zur Europäischen Union geöffnet, woraufhin sich Tausende Migranten und Flüchtlinge auf den Weg gen EU machten. Was danach folgte, ist bekannt: teils aggressives Eingreifen der griechischen Grenzpolizei - Rauchbomben, Tränengas, Wasserwerfer. Griechenland beschloss, das Recht auf Asyl für einen Monat auszusetzen.
Die EU und Menschenrechtsorganisationen werfen der Türkei vor, Menschen als politisches Druckmittel zu missbrauchen. Erdogan selbst sagt, die EU habe nicht gehalten, was sie im 2016 abgeschlossenen EU-Türkei-Abkommen versprochen hatte. Vor allem geht es ums Geld: Sechs Milliarden Euro hatte die Europäische Union der Türkei dafür, dass sie Flüchtlinge aus Syrien nicht in die EU weiterreisen lässt, zugesichert. Erdogan behauptet, davon sei bisher zu wenig geflossen. Laut EU-Kommission wurden insgesamt 3,2 Milliarden Euro ausbezahlt, 4,7 Milliarden Euro vertraglich vergeben.
EU-Türkei-Deal: Wie soll es weitergehen?
Beim Treffen in Brüssel vergangene Woche hatte man gemeinsam den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und seinen türkischen Counterpart, Außenminister Mevlüt Cavusoglu, damit beauftragt, den EU-Türkei-Deal zu stabilisieren, eventuell bis zum nächsten EU-Gipfel am 26. März schon Vorschläge zu präsentieren. Die beiden tagten parallel zur Konferenz von Erdogan, Merkel, Macron und Johnson.
Für die Migrationsexpertin Olivia Sundberg Diez vom Brüsseler Thinktank European Policy Center (EPC) ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt für die EU, die "problematischen Aspekte" des Deals mit der Türkei neu zu überdenken. Ein Problem sei, dass die Türkei Menschen in Länder zurückschicke, die gefährlich sind. Die momentane Katastrophe in der syrischen Provinz Idlib und ihre Folgen seien ein weiteres.
Ken Roth, Geschäftsführer von Human Rights Watch, sagt, dass Erdogan vor allem aufgrund der Situation in Idlib Druck auf die EU ausüben wolle. "Die Türkei kann es sich nicht leisten, noch mal drei oder vier Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, nachdem schon 3,6 Millionen Menschen aus Syrien im Land sind", so Roth im Gespräch mit der DW.
Putin, "das wahre Problem"
In Idlib stehen sich von der Türkei unterstützte Rebellen und Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad gegenüber, der Hilfe von Russland erhält. Der einzige Weg, eine neue sogenannte Flüchtlingskrise in Europa zu vermeiden, sei es, den russischen Präsidenten Wladimir Putin davon abzuhalten, Zivilisten in Idlib zu bombardieren und damit ein noch größeres Blutbad anzurichten, sagt Roth. Der Bösewicht sei immer nur Assad, nicht Putin, "der das wahre Problem darstelle".
Vor kurzem erst hatten sich die Kriegsparteien auf einen temporären Waffenstillstand geeinigt. Ein Atemholen - wenn auch ein rasselndes, das jeden Moment stocken könnte - das sowohl Kanzlerin Merkel als auch der britische Premier Johnson nach dem virtuellen Treffen "begrüßten". Johnson lies ebenfalls mitteilen, man habe darin übereingestimmt, dass "abgestimmtes, multilaterales Handeln" das einzige Richtige sei in Zeiten der Corona-Pandemie. Es gibt Dinge, die sind so groß, dass dann doch einmal alle einer Meinung sind.