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Erdogan auf Konfrontation zu Deutschland

8. August 2016

Großer Auftritt für den Präsidenten: Erdogan lässt nach dem gescheiterten Putsch mehr als eine Million Türken für "Demokratie und Märtyrer" aufmarschieren. Deutschland wirft er hingegen Demokratie-Defizite vor.

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Erdogan auf Kundgebung in Istanbul (Foto: REUTERS/Osman Orsal)
Bild: Reuters/O. Orsal

Eine Woche nachdem er sich bei einer Großkundgebung in Köln nicht per Videoschaltung an seine Anhänger wenden durfte, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Istanbul direkt vor mehr als einer Million Menschen gesprochen. Erdogan nutzte das große Publikum bei der Massendemonstration gegen den Umsturzversuch vom 15. Juli, um erneut auf Konfrontationskurs zu Deutschland zu gehen. "Deutschland hat die Videoschaltung nicht erlaubt, wo ist die Demokratie?", rief Erdogan. Kurdischen Extremisten sei es in Deutschland hingegen erlaubt worden, per Videokonferenz zu senden.

Vergangenen Sonntag hatten rund 40.000 Menschen in Köln für Erdogan demonstriert. Die türkische Regierung kritisierte die Entscheidung als "unannehmbar" und als Verstoß gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wegen des Verbots der Übertragung bestellte sie daraufhin den deutschen Gesandten in Ankara ein.

Zerschlagung der Gülen-Bewegung

Vor einem Meer aus roten türkischen Fahnen rief Erdogan auf dem Yenkapi-Platz in Istanbul, der gescheiterte Putsch von Mitte Juli sei ein Meilenstein hin auf dem Weg zu einer stärkeren Türkei. Den "Feinden" sei bewusst geworden, dass von nun an für sie alles schwieriger sein werde. "Wir werden ab jetzt sehr genau prüfen, wen wir unter uns haben." Das gelte für das Militär ebenso wie für die Justiz. "Die anderen werfen wir zur Tür raus." Das Netzwerk des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Drahtzieher des Putsches hält, werde zerschlagen.

Kundgebung in Istanbul gegen den Umsturzversuch (Foto: Reuters/Y. Bulbul/Presidential Palace/Handout)
Gegen den Putsch, gegen Gülen: Über eine Million Türken stellen sich hinter ErdoganBild: Reuters/Y. Bulbul/Presidential Palace/Handout

Die Regierung geht bereits mit voller Härte gegen die Anhänger des Predigers vor. Nach Regierungsangaben wurden mehr als 60.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen. Mehr als 13.000 Verdächtige sind in Untersuchungshaft.

Todesstrafe wäre K.O.-Kriterium für EU-Beitritt

Erneut zeigte sich Erdogan offen für eine Wiedereinführung der Todesstrafe. Sollte das Parlament für die Einführung der Todesstrafe stimmen, so werde er dies billigen, sagte er. Schließlich gebe es die Todesstrafe auch in vielen anderen Ländern. Ähnlich hatte sich Erdogan bereits kurz nach dem Putschversuch geäußert. Erdogan ging mit seiner Äußerung offenbar auf die Rufe von Demonstrationsteilnehmern ein, die lauthals "Todesstrafe" skandierten.

Die Chancen auf einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union (EU) würde das gleichwohl zunichtemachen. Der deutsche Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte in einem kurz vor Erdogans Rede geführten Fernsehinterview, sollte die Türkei die Todesstrafe einführen, würde es keinen Sinn mehr machen, über einen EU-Beitritt zu verhandeln. Derzeit aber halte er einen Abbruch der Verhandlungen für nicht vernünftig. "In der Lage, in der wir jetzt sind, müssen wir jeden Gesprächskanal zur Türkei suchen", sagte er.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz kündigte dagegen Widerstand im EU-Außenministerrat gegen die Eröffnung neuer Kapitel in den Verhandlungen an, für die ein einstimmiger Beschluss nötig ist. Auch FDP-Chef Christian Lindner forderte ein Ende der Beitrittgespräche. Er warf Erdogan in der Zeitung "Bild am Sonntag" zudem vor, ein autoritäres Regime aufzubauen, zugeschnitten allein auf seine Person. "Wir erleben einen Staatsputsch von oben wie 1933 nach dem Reichstagsbrand."

Schulterschluss mit der Opposition

An der Demonstration unter dem Motto "Demokratie- und Märtyrer-Versammlung" nahmen auch Vertreter der Oppositionsparteien teil. Geladen waren Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP und der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli. Die pro-kurdische HDP hingegen hatte Erdogan wegen ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK nicht dazu gebeten.

Kundgebung in Istanbul gegen den Umsturzversuch (Foto: Reuters/Y. Bulbul/Presidential Palace/Handout)
Neben CHP-Oppositionsführer Kilicdaroglu (Bild) sprach auch der Chef der ultranationalistischen MHPBild: Reuters//O. Orsal

Kilicdaroglu forderte, die "Versöhnungskultur" in die Zukunft zu tragen. Bahceli sprach sich für eine Überwindung der "Polarisierung" der Türkei aus und sagte:"Lasst uns eine neue Seite aufschlagen." Armeechef Hulusi Akar - der von den Putschisten gefangen genommen worden war - nannte die Umstürzler aus den Reihen der Streitkräfte "Monster und Verräter mit blutigen Händen in Militäruniform".

Bei dem gescheiterten Putsch am 15. Juli wurden mindestens 273 Menschen getötet, darunter nach Darstellung der Regierung 239 "Märtyrer", also Zivilisten und regierungstreue Sicherheitskräfte. Die Großkundgebung am Sonntag in der Metropole am Bosporus begann mit einer Schweigeminute für die Opfer des Putschversuches.

vk/sc (afp, dpa, rtr)