Erdoğan riskiert den Absturz
20. Juli 2018Immerhin: Die "Kartoffelkrise" scheint überwunden, die Preise sinken wieder. Ein Kilo kostete zeitweise bis zu sieben Lira und damit vier Mal mehr als vor einem Jahr. Auch die Preise für Zwiebeln, Tomaten und andere Grundnahrungsmittel sind stark gestiegen. Die Inflation hat den Alltag vieler Türken fest im Griff, überall ist sie zu spüren: beim Einkaufen, an der Tankstelle, bei den Mieten. "Alles wird immer teurer. Ich kann mir vieles nicht mehr leisten, Urlaub schon gar nicht", beschwert sich eine Kundin auf dem Obst- und Gemüsemarkt im Istanbuler Stadtteil Şişli. Artischocken, frische Minze, Melonen, Trauben, die ersten Feigen - alles von Bauern aus dem Umkreis, die Auswahl ist groß, aber die Preise schwanken. "Wir zahlen für viele Lebensmittel inzwischen das Doppelte", sagt ein Mann am Nachbarstand. "Die Regierung ist schuld, sie muss endlich etwas tun".
Lira-Crash und Ramsch-Rating
Die türkische Wirtschaft ist zwar zuletzt um 7,4 Prozent gewachsen - und damit stärker als die chinesische. Doch gleichzeitig steigt das Leistungsbilanzdefizit, die Lira hat seit Jahresbeginn mehr als ein Fünftel an Wert zum Dollar und Euro verloren und die Inflation ist mit 15 Prozent auf Rekordniveau. Die wirtschaftliche Lage ist so schlecht wie seit Jahren nicht. Kürzlich stufte auch die Ratingagentur Fitch die Kreditwürdigkeit der Türkei weiter in den Ramschbereich herab. Die Bonität des Landes wird jetzt mit "BB" bewertet, Ausblick: negativ. Damit rangiert die Türkei auf einer Stufe mit Ländern wie Guatemala oder Costa Rica.
Auf das Urteil von internationalen Ratingagenturen gibt Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekanntlich wenig. Nach seiner Wiederwahl im Juni ist er jetzt mächtiger denn je - Staats-, Partei- und Regierungschef in einer Person - und er verspricht seinem Land eine glorreiche Zukunft. "Unsere Wirtschaft ist auf dem richtigen Weg. Jeder kann sehen, wie wir investieren", zitierte ihn kürzlich die Zeitung Hürriyet. Die Türkei werde schon bald "eine der zehn größten Wirtschaftsmächte der Welt", versprach Erdoğan nach seiner Vereidigung für eine weitere Amtszeit.
Zentralbank unter Druck
Schon im Wahlkampf hatte er angekündigt, die Geldpolitik seines Landes künftig stärker zu kontrollieren. Anleger fürchten vor allem um die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank. Vergangene Woche erließ Erdoğan ein Dekret, das ihm erlaubt, den Chef und den Vize-Chef der Bank künftig alleine zu ernennen. Außerdem wird durch das Dekret die Amtszeit der beiden Spitzennotenbanker von bisher fünf auf nur noch vier Jahre verkürzt. "Die Zentralbank macht schon lange nur noch das, was Erdoğan will, genau wie alle anderen Institutionen in diesem Land. Hier wird nichts mehr ohne seine Zustimmung entschieden", sagt der Ökonom Atilla Yeşilada. "Wäre die Bank tatsächlich noch unabhängig, dann hätte sie schon vor zwei Jahren reagiert und die Zinsen deutlich angehoben, um die Inflation zu bekämpfen".
Eine Zinserhöhung gilt unter Ökonomen als wichtige Maßnahme zur Stabilisierung der Währung - doch laut Erdoğans ganz eigener Wirtschaftstheorie sind höhere Zinsen "die Ursache allen Übels" und gefährden das Wirtschaftswachstum. Regelmäßig drängt der Staatspräsident deshalb darauf, die Leitzinsen nicht zu erhöhen. Noch ist unklar, wie die Notenbank dieses Mal reagieren wird. Die nächste Zinsentscheidung ist für den 24. Juli geplant.
Der Schwiegersohn soll es richten
Erdoğans Tendenz, alle Entscheidungsbefugnisse an sich zu ziehen, hat die Märkte tief verunsichert. Vertrauen zurückgewinnen muss jetzt der neue Finanz- und Schatzminister: Berat Albayrak, 40 Jahre alt, Erdoğans Schwiergersohn. Albayrak hat Betriebswirtschaft in Istanbul und den USA studiert, war im letzten Kabinett Energieminister. Trotzdem gilt er als relativ unerfahrener Politiker, dem Erdoğan jetzt eine Schlüsselposition verschafft hat. Chefberater in Wirtschaftsfragen war bislang der ehemalige Vize-Premier Mehmet Şimşek. Der Ex-Merrill-Lynch-Ökonom galt als investorenfreundlich, als einer, der sich auch mal traute, Erdoğan zu widersprechen. Künftig wird er nicht mehr im Kabinett vertreten sein.
Albayrak verspricht nun Haushaltsdisziplin, Strukturreformen, eine unabhängige Zentralbank und Maßnahmen gegen die Inflation. "Unter normalen Umständen würde ich sagen: Gebt ihm Zeit, sich zu beweisen", sagt Analyst Atilla Yeşilada. "Aber die Umstände sind alles andere als normal. In Zeiten wie diesen braucht man erfahrene Piloten am Steuer". Albayrak müsse jetzt liefern, so Yeşilada, sonst drohe der Türkei ein Wirtschaftscrash und das Land müsse beim Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe bitten.
"Im vierten Quartal wird die Wirtschaft schrumpfen, die Arbeitslosenrate von zehn auf 12 Prozent steigen, die Lira weitere zehn oder mehr Prozent an Wert verlieren und viele mittelständische Unternehmen im Energiesektor, im Einzelhandel, in der Baubranche werden bankrott gehen", prophezeit der Analyst. Das bliebe dann auch für Europa nicht ohne Folgen, denn viele türkische Firmen sind bei europäischen Geldhäusern hoch verschuldet.