Erbarmen mit den Armen
23. März 2016Das Thema Ungleichheit ist in Deutschland ein Dauerbrenner. Zurzeit gibt es wieder eine Fülle von Veröffentlichungen. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS) startete gleich eine ganze Serie "mit teils kontroversen Beiträgen", rund um "die Grundsatzfrage, was an der Ungleichheit moralisch verwerflich sein soll". Darunter als Teil dieser Serie: Ein Auszug aus dem neuen Buch "Verteilungskampf" von Marcel Fratzscher, dem Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Für ihn ist das schöne Bild vom mustergültigen Wohlfahrtsstaat Deutschland nicht mehr als "eine Illusion".
"Der Spiegel" feuerte fast zeitgleich zur Buchveröffentlichung eine ganze Titelgeschichte zum Thema ab. Tenor: Die ökonomische Theorie, wonach Ungleichheit zum Wesen einer funktionierenden Marktwirtschaft gehöre, sei ins Wanken geraten. Zwar gelte unter Volkswirten ein gewisser Abstand zwischen Oben und Unten noch immer als Voraussetzung für Leistungsbereitschaft und damit für Fortschritt, Wachstum und Innovation. Doch inzwischen wachse bei vielen Ökonomen die Einsicht, dass es für die Wirtschaft schädlich sei, wenn die Ungleichheit zu groß werde.
Wohlstandseinbußen durch Ungleichheit
Erst stellte, laut "Spiegel", der Internationale Währungsfonds in einer Studie von über hundert Industrie und Schwellenländern fest, dass "steigende Ungleichheit mit geringerer Produktionszunahme" verbunden sei. Dann bezifferte die Industrieländer Organisation OECD die dadurch verursachten Wohlstandseinbußen allein in Deutschland auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Diese Studien blieben allerdings nicht unkommentiert. So kam das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer eigenen Untersuchung zu dem Schluss, die Materie sei "zu komplex für einfache Wahrheiten".
Volkswirtschaften mit geringem BIP
Die Analyse - so das IW - zeige zwar auch, dass die Ungleichheit einen negativen Einfluss auf das Wachstum haben könnte. Allerdings nicht generell, sondern nur in Volkswirtschaften mit einer geringen Wirtschatsleistung - als Orientierungswert zeigten die Schätzungen ein BIP von lediglich 9.000 US-Dollar pro Kopf. Denn in jenen Ländern seien ärmere Bevölkerungsgruppen meist von Bildung ausgeschlossen, und das Gesellschaftssystem insgesamt eher instabil.
Für Industrienationen wie Deutschland sei der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum hingegen - wenn überhaupt nachweisbar - eher positiv, weil Ungleichheit die Anreize für Unternehmertum und Innovationen steigere. Das gelte zumindest, solange die Ungleichheit nicht überhand nehme. Offen bleibt zunächst der Punkt, an dem Ungleichheit "überhand" nimmt.
Standard-Index der Wohlfahrtsökonomie
An dieser Stelle wird es für den interessierten Laien etwas abstrakt, denn das IW bringt den sogenannten Gini-Index oder Gini-Koeffizienten ins Spiel - ein in der Wohlfahrtsökonomie standardmäßig verwendeter Index, um das Maß der Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen oder Einkommen zu beschreiben, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini.
Das IW hat nun berechnet, dass es ab einem Gini-Koeffizienten von etwa 0,35 wahrscheinlicher werde, dass Ungleichheit das Wirtschaftswachstum hemme. Zur Erklärung: Beim Wert 0 erhalten alle gleich viel Einkommen, beim Wert 1 würde ein einziger Mensch alles auf sich vereinen. Die OECD-Länder lägen mit durchschnittlich 0,32 unterhalb der vom IW berechneten Grenze, Deutschland mit 0,29 sowieso, in den USA sehe es mit knapp 0,40 dagegen tatsächlich nicht so rosig aus.
Verunsicherung der Gesellschaft
Laut IW-Studie legte die Ungleichheit in Deutschland einzig von 2000 bis 2005 merklich zu, als auch die Wirtschaft schwächelte. Die Ungleichheit tauge also nicht zur Erklärung des Wirtschafts-Einbruchs, da sie parallel und nicht in der Vorperiode angestiegen sei. Die Ungleichheit führe zudem keineswegs zu einer immer stärker verunsicherten Gesellschaft: Zu kaum einem Zeitpunkt seien die Sorgen um die allgemeine und eigene wirtschaftliche Situation geringer als heute gewesen. "Man sollte aufhören, eine Gesellschaft krampfhaft verunsichern zu wollen, die gar nicht verunsichert ist. Das könnte auch für mehr Zuversicht bei der Flüchtlingsintegration sorgen", sagt IW-Direktor Michael Hüther.
Die soeben veröffentlichte Untersuchung der Bundesbank zur Vermögensverteilung in Deutschland wurde im Jahr 2014 erstellt. Danach besaßen die reichsten zehn Prozent der Haushalte knapp 60 Prozent des gesamten Nettovermögens. Zum Vergleich: Für die unteren 50 Prozent gemessen am Reichtum lag 2014 der Wert gerade einmal bei 2,5 Prozent. Das mittlere Vermögen der Deutschen lag der Erhebung zufolge 2014 bei etwa 60.400 Euro - im Vergleich zu 2010 ist das ein Zuwachs um rund 9000 Euro.
Ungleichheit ungleich verteilt
Damit schneidet Deutschland allerdings nach wie vor deutlich schlechter ab als Italien, wo das mittlere Vermögen 2014 mit 138.000 Euro mehr als doppelt so hoch war. Im Zuge der schwachen Wirtschaftsentwicklung mussten Italiener allerdings Einbußen hinnehmen. Im Vergleich zu 2010 sank ihr mittleres Vermögen um 19 Prozent.
Die Ungleichheit ist also auch in Industriestaaten ungleich verteilt. Doch welchen Effekt sie hat, darüber streiten die Volkswirtschaftler. "Deutschlands soziale Marktwirtschaft existiert nicht mehr", schreibt DIW-Chef Marcel Fratzscher in seinem neuen Buch über die Ungleichheit und nimmt damit eine Extremposition im Spektrum der Beurteilungen des Phänomens ein.
Wirtschaftsweise warnen vor Populismus
Die beiden Spitzenökonomen und Wirtschaftsweisen Lars P. Feld und Christoph M. Schmidt meinen dagegen in ihrem Beitrag für die FAS-Serie, gerade in Deutschland zeichneten die verfügbaren Daten zum Thema Ungleichheit "ein unspektakuläres Bild".
Sie sehen in der regelmäßig wiederkehrenden Beschwörung einer immer weiter auseinanderklaffenden sozialen Schere lediglich eine "Skandalisierung des Unspektakulären als Marketing-Kniff, bei näherem Hinsehen durchschaubar, aber harmlos". Allerdings würde die Öffentlichkeit - bisweilen sicherlich ganz bewusst - "dadurch vom eigentlichen Problem staatlichen Handels abgelenkt, seiner schrumpfenden Kraft, der Sicherung der künftigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes eine hohe Priorität zu verleihen". Deshalb warnen die Wirtschaftsweisen: "Diesem Ablenkungsmanöver sollten wir nicht auf den Leim gehen."