Neue Prioritäten für Afghanistan?
17. November 2020Erst kürzlich wieder sei er überfallen worden, erzählt Fazlullah Akhtar. Vier Männer hätten ihn mit einem Messer bedroht, am hellichten Tag, mitten auf den Straßen von Kabul. "Wenn man überlebt, ist das nur Zufall - und Glück. Ganz sicher nicht, weil die Regierung irgendetwas tut." Sein Handy ist frisch aufgeladen, der Strom ist mal wieder ausgefallen, aber eine Powerbank macht das Telefoninterview möglich. "Die Leute sind langsam verzweifelt. Hoffnungslos."
Die Unsicherheit in Afghanistan nimmt zu, immer wieder gibt es Anschläge, zuletzt auf die Universität in Kabul. In Doha werden zähe Friedensverhandlungen geführt, die Taliban sitzen mit am Tisch. Seit fast 20 Jahren ist die internationale Gemeinschaft in Afghanistan aktiv, nicht nur militärisch, auch im zivilen Aufbau, in der Entwicklungszusammenarbeit. Dieses Wochenende sollen neue Gelder beschlossen werden auf der sogenannten Geber-Konferenz in Genf.
Leere Versprechen
Auf Facebook, sagt Akhtar, würden unter Posts der afghanischen Präsidentschaft, die hoffnungsvoll auf die Geber-Konferenz blicken, nur noch Lach-Emojis zu sehen sein. "Die Menschen lachen über die Versprechen, die gemacht werden, sie kennen die Realität dieser Versprechen nur allzu gut".
Diese Realität ist ernüchternd. Afghanistan bezieht rund 60% seines Staatshaushaltes aus ausländischen Geldern. Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt das Land schon seit Jahren einen der letzten Plätze. Bis zu 70% der Menschen leben laut der Weltbank unter der Armutsgrenze. Und das, obwohl Milliarden an Geldern in das Land geflossen sind. Allein in den letzten vier Jahren 15,2 Milliarden US-Dollar. Was ist da falsch gelaufen?
Die Hoffnungen waren einfach zu groß
Viel, sagt Christoph Zürcher, Professor an der Universität Ottawa, der sich intensiv mit Entwicklungsprojekten in Afghanistan beschäftigt hat. Unter'm Strich die Botschaft: Man hat sich komplett überschätzt. Besonders schlecht funktioniert haben laut der Studie große Projekte - good governance, Staatsaufbau, Geschlechtergerechtigkeit.
Zürcher sagt, was bisher oft fehlt: "Demut und Bescheidenheit, dass es nicht so schnell geht, wie man sich das erhofft hat, dass die großen, coolen, transformativen Programme vielleicht nicht funktionieren." Dass etwa Gender-Empowerment-Programme wenig Sinn ergeben, wenn 80% der Frauen nicht lesen und schreiben können. Dass die Förderung einer Dezentralisierung nur dann funktioniert, wenn der politische Wille dafür da ist, dass die Provinzen tatsächlich mehr Macht bekommen.
Doppelter Vertrauensverlust
Grund dafür sei vor allem gewesen, dass man den lokalen Kontext nicht richtig verstanden habe. Am Anfang, erklärt Zürcher, hätten vor allem die Amerikaner den Fehler gemacht, in unsichere Gebiete mehr Geld zu investieren. "Das gab das Signal: Mehr Unsicherheit lohnt sich". Auch die Bonner Entwicklungsforscherin Katja Mielke bestätigt, "dass Entwicklungs-Akteure, Durchführungs-Organisationen und NGOs in dem Moment schon zu Konfliktparteien werden, weil sie umfangreiche Ressourcen einbringen, die Begehrlichkeiten wecken." Auch die Zusammenarbeit mit Warlords, von denen man Grundstücke und Equipment gemietet habe, habe zu Kopfschütteln in der Bevölkerung geführt, sagt Mielke.
Fazlullah Akhtar hat die unterschiedlichsten Entwicklungs-Akteure beraten und weiß, wie es in afghanischen Ministerien aussieht. Er hat die Korruption im Staatsapparat mit eigenen Augen mitbekommen, genau wie den Nepotismus bei der Postenvergabe. "Wenn du keinen Kontakt zu einem Warlord oder einer Partei hast, hast du keine Chance", erzählt er. "Es gibt eine massive Korruption in der politischen Elite", sagt auch Mielke. Das führe dann wiederum zu einem Vertrauensverlust - in die eigene Regierung und in die internationalen Unterstützer, die diese politische Elite zum Partner machen.
Unsicherheit, Armut und Korruption bleiben
Gerne zeigt man auf die Amerikaner, wenn es um diese Art von Fehlern geht, auch in Deutschland. SIGAR, die Behörde, die die USA eingerichtet haben, um die US-Gelder zu überprüfen, die nach Afghanistan fließen, hat gerade erst wieder veröffentlicht: 19 Milliarden Dollar sind an Korruption verloren gegangen in den letzten zehn Jahren.
"Wir wollen uns da nicht reinwaschen", sagt Henning Plate vom deutschen Entwicklungsministerium. Aber Deutschland habe ganz andere Kontrollmechanismen und überhaupt von Anfang an eher im sicheren Norden und Nordosten Projekte durchgeführt und versucht, konkrete Projekte mit konkreten Zielen zu unterstützen: Zugang zu Trinkwasser, zu Strom, Infrastruktur.
Auch mal Dinge sein lassen
Was lernt man also aus den Fehlern für die nächsten Jahre? "Bescheidener, kleiner, nachhaltiger, langfristiger" müsse die Entwicklungszusammenarbeit werden, auch die deutsche, das empfiehlt Christoph Zürcher. Dazu gehören schwierige politische Entscheidungen, auch mal Dinge sein zu lassen.
Aber, das betonen alle Gesprächspartner, es müsse eben auch Kontinuität geben. Vor ein paar Tagen hat die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, dass große Geldgeber wie die USA, Großbritannien und Frankreich überlegen, deutlich weniger Entwicklungsgelder nach Afghanistan fließen zu lassen in den kommenden Jahren. Henning Plate aber betont: "Wir werden Afghanistan nicht im Regen stehen lassen. Die Menschen brauchen das, der Staat braucht das."
Viele Themen werden also auf den Tisch kommen in Genf. Die Rolle der Taliban beim Wiederaufbau des Landes. Wie Bedingungen für Entwicklung geschaffen werden können, damit Ziele erreicht werden. Und wie und ob Afghanistan mittel- und langfristig unabhängiger von internationalen Geldern wird. Aber: Aus den Fehlern der letzten 20 Jahre müssen alle Seiten lernen.