"Jahrhundert-Projekt"
2. März 2007Eine Hymne – die "Ode an die Freude" von Ludwig van Beethoven; eine Flagge - goldener Sternenkreis auf dunkelblauem Grund; ein Feiertag - der 9. Mai: Die Europäische Union hat manches von dem, was einen Staat ausmacht. Es fehlt jedoch weiterhin eine Verfassung. Dass es damit länger dauern kann, hat schon Ex-Außenminister Joschka Fischer vorausgesehen: "Die europäische Verfassung – unsere europäische Verfassung - ist ein Jahrhundert-Projekt."
Der erste Schritt auf dem Weg zur Verfassung war der Werte-Kanon, der unter der Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog ausgearbeitet wurde. Darin enthalten sind das Recht auf Freiheit, auf Gleichheit und auf politische Aktivitäten, sowie allgemeingültige Regeln über die Einschränkung von Grundrechten.
Abschied vom Juristen-Jargon
Diese Grundrechte-Charta stand bereits im Sommer 2000. Und weil der Herzog-Konvent so erfolgreich war, beriefen die Staats- und Regierungschefs ein Jahr später einen zweiten Konvent ein - diesmal mit dem Europa-Enthusiasten Valérie Giscard d'Estaing an der Spitze. Der brauchte weitaus länger, aber dafür ging es um mehr: Den Europäern sollte die EU klar und deutlich nahe gebracht werden, ohne den Juristen-Jargon, der die Verträge von Rom 1957 bis Nizza 2001 für den einfachen Bürger zu Büchern mit sieben Siegeln gemacht hatte. Die Verfassung, so das Ziel, sollte alle vorherigen Verträge zusammenfassen und ersetzen.
Die Europäische Verfassung als Lesebuch für jeden? Giscard d'Estaing war überzeugt, dass seine Arbeitsgruppe das geschafft hatte: "Wir denken, dass dies ein guter Text ist - gut für Europa und gut für die Europäer."
Grundrechte und mehr
Der Text beginnt mit der Charta der Grundrechte und listet dann auf, was die EU ausmacht: der Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungspolitik und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei ist genau erklärt, wie das Zusammenspiel zwischen Parlament, Rat, Kommission und den übrigen Organen der Union funktioniert und wer bei welchen Themen das letzte Wort haben soll. Einige Punkte sind ganz neu: Ein europäischer Außenminister soll beispielsweise künftig die gesamte EU vertreten.
Wie eine Vereins-Satzung enthält die EU-Verfassung einen Paragraphen darüber, wie man Mitglied wird und wie man wieder austreten kann. Wenn ein Mitgliedsland gegen die Verfassung verstößt, können die anderen Mitglieder Strafen beschließen, indem sie zum Beispiel dem Land das Stimmrecht entziehen.
Zustimmung - und Ablehung
Bis 2004 hatten die Regierungen dem Entwurf zugestimmt. Danach mussten die einzelnen Länder das Werk noch ratifizieren. Deutschland und viele andere ließen es bei einer Abstimmung im Parlament, in einigen Staaten aber wurde das Volk gefragt: In Spanien war eine Mehrheit dafür, in Frankreich aber stimmte eine knappe Mehrheit dagegen - das erste Beben ging durch die Union. Kurz darauf stimmten auch die Niederländer gegen die Verfassung.
Dieses "nee" war zuviel. Großbritannien ließ erst gar nicht mehr abstimmen, die EU rutschte in eine tiefe Krise. So bezeichnete man das natürlich nicht offen, sprach vielmehr von einer "Denkpause". Dieser "Denkpause" folgte im vergangenen Jahr eine "Nachdenkphase". Die Frage: Ist die Verfassung noch irgendwie zu retten?
Wenn es einer kann, dann Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft - so die Überzeugung der anderen EU-Staaten. Nun richten sich also bis Juni 2007 alle Augen auf Angela Merkel. Die hohen Erwartungen stellen nach Ansicht von Andreas Marchetti vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung in Bonn ein Problem dar: "Der Preis für ein Scheitern ist natürlich sehr hoch."
Zumindest einen Zeitplan sollen die Deutschen während ihrer Ratspräsidentschaft aufstellen. Noch besser wären konkrete Vorschläge - zum Beispiel das Aufsplitten des alten Entwurfs in mehrere Einzelteile, um diese erneut in Frankreich und den Niederlanden zur Abstimmung zu stellen. Denn einen grundsätzlich neuen Text will eigentlich niemand. Aber ein Jahrhundert-Projekt, das tatsächlich 100 Jahre braucht, auch nicht.