Energiepreise: Abwarten oder Eingreifen?
5. Oktober 2021Allein im September sind die Verbraucherpreise für Erdgas in der EU um 17 Prozent gestiegen. Viele Familien bekommen in diesen Tagen von ihren Versorgern unangenehme Post. Die Vorauszahlungen für Gas und Strom klettern weiter steil nach oben. Die rasante Entwicklung der Gas- und Strompreise in der EU kommt für Fachleute nicht so überraschend. Seit dem Frühsommer zeichnete sich ab, dass weltweit hohe Nachfrage, sinkende Produktion in den Niederlanden, halbleere Vorratsspeicher in der EU und russische Zurückhaltung bei höheren Liefermengen auf dem Energiemarkt für steigende Preise sorgen würden.
Im Sommer hatten EU-Beamte, die rasante Preisentwicklung, die auch die Inflationsrate in der Eurozone nach oben treibt, als vorübergehendes Phänomen abgetan, das man aushalten könne. Jetzt aber, wo die Gaspreise und die mit ihnen verbundenen Strompreise in den Portemonnaies der Verbraucher und den Kassen der Betriebe ankommen, schlagen viele Wirtschaftsminister in der Europäischen Union Alarm.
Frankreich geht voran
"Diese Preise sind einfach unerträglich", wetterte der französische Finanzminister Bruno Le Maire beim Treffen mit seinen Kolleginnen und Kollegen in Luxemburg. Besonders Menschen mit geringen Einkommen seien unter Druck. "Wir könnten eine neue Gelbwesten-Bewegung bekommen", warnte der französische Europa-Abgeordnete Pascal Canfin schon vor einigen Tagen. Die massive Protestbewegung in Frankreich war 2018 wegen Steueraufschlägen auf Diesel-Kraftstoff entstanden. Der französische Minister und die Kollegin aus Spanien sowie die Kollegen aus Italien und Griechenland fordern ein Eingreifen der EU. Spanien und Italien hatten bereits Zuschüsse für Haushalte mit niedrigen Einkommen angeregt.
Frankreich will möglicherweise Energiepreise bis zum nächsten Frühjahr einfrieren. Wie das genau funktionieren soll und wer am Ende die Energie-Schecks für einkommensschwache Haushalte bezahlen soll, blieb beim Finanzministertreffen in Luxemburg unklar. Einige südliche Staaten bringen den gemeinsamen Einkauf von Gas ins Spiel, um Kosten zu senken. Andere wollen Energiekäufe oder Entlastungs-Zahlungen über den EU-Haushalt und vielleicht sogar neue Schulden finanzieren.
Zurückhaltend sehen solche Ideen EU-Diplomaten aus den nördlichen Mitgliedsstaaten. Deutschland, das über den größten Gasmarkt in Europa verfügt, wird wohl erst einmal abwarten. Das sei ein vorübergehendes Ereignis, das sich im nächsten Frühjahr durch die Marktkräfte klären werde, hieß es vergangenen Freitag von einer Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin. "Es wurden sehr viele Ideen ausgetauscht. Es bleibt eine optimistische Grundstimmung", beschrieb der irische Finanzminister Paschal Donohoe die Diskussionen innerhalb der EU. "Entschieden wird über konkrete Maßnahmen aber noch nicht", ergänzte seine finnische Kollegin Annika Saarikko. Sie sieht Eingriffe der EU in den Energiemarkt skeptisch.
EU bastelt an Werkzeugen
In der kommenden Woche will die EU-Kommission einen "Werkzeug-Kasten" mit verschiedenen Maßnahmen veröffentlichen, kündigte der EU-Kommissar für Wirtschaft, Paolo Gentiloni, an. In diesem Kasten sollten auch Überlegungen zu gemeinsamem Einkauf und zum Anlegen von gemeinsamen Gasvorräten vorkommen, meinte Gentiloni. "Das werden aber keine einfachen Lösungen, keine traditionellen Lösungen. Deshalb wird das einige Zeit brauchen." Am Dienstagabend wollten sich die Staats- und Regierungschefs der EU bei einem informellen Essen am Vorabend des EU-Balkangipfels mit dem Energiemarkt befassen. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sagte, die weltweite Nachfrage steige, aber die weltweite Lieferung nicht. "Wir sind dankbar, dass Norwegen seinen Ausstoß steigern will, aber das scheint bei Russland nicht der Fall zu sein", kritisierte von der Leyen.
Sie setzt sich dafür ein, Gas- und Strompreise zu entkoppeln. Es müsse mehr Strom aus erneuerbarer Energie in Europa erzeugt werden. Die steigenden Preise für die Freisetzung von Kohlendioxid, die sich aus dem EU-Emissionshandel ergeben, sollen dagegen nicht angetastet werden, kündigte die der EU-Kommissar für Wirtschaft, Paolo Gentiloni, an: "Erwarten sie auf diesem Gebiet keine Revolution."
Der Emissionshandel werde gebraucht, um die Energiewende in Europa insgesamt voranzubringen. Am sogenannten Green Deal zum Erreichen der Klima-Ziele soll trotz steigender Energiepreise nicht gerüttelt werden. Die EU-Mitgliedsstaaten könnten andere Steuern und Abgaben auf Energie senken, wie zum Bespiel die Umlage für Erneuerbare Energie (EEG) in Deutschland. Das liegt aber nicht in der Kompetenz der EU. Energiepolitik ist Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Der französische Finanzminister Bruno Le Maire nutzte die Gelegenheit, für Nuklearenergie zu werben, die in Frankreich einen großen Anteil an der Stromerzeugung hat. Die müsse in der aktuellen Lage als "nachhaltig" und "klimafreundlich" erklärt werden, weil sie kein CO2 produziere und im Vergleich zu Gas billiger werde. Viele Mitgliedsstaaten der EU, die auf Nuklearenergie verzichten, sehen das kritisch. Der zuständige EU-Kommissar Gentiloni sagte nur: "Wir prüfen das noch." Zum Beispiel: Kann der fossile Energieträger Uran als nachhaltig gelten, wenn es bis heute kein Endlager für den Atommüll gibt?
Russland könnte mehr liefern
Russlands Gazprom ist mit 37 Prozent der importierten Gasmenge der größte Gaslieferant für die EU. Die russische Staatsfirma hält ihre Lieferverträge nach Angaben deutscher Versorgungsunternehmen ein, ist aber im Moment wohl nicht bereit, die Liefermengen zu steigern. Es könnte sein, dass Russland so Druck aufbauen will, um der EU die Abhängigkeit vor Augen zu führen. Sicher sind sich EU-Diplomaten bei dieser Einschätzung aber nicht.
Die umstrittene Gaspipeline Nordstream 2, die direkt von Russland nach Deutschland führt, ist zurzeit in der Testphase. Ihr Betrieb wird erst in vier Monaten nach der Zertifizierung durch die Bundesnetzagentur möglich sein. In der aktuellen Gaskrise wird sie wohl noch keine Rolle spielen. Ein Sprecher des Bundesverbandes der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) erklärte in der Zeitung Rheinische Post, auch wenn die deutschen Gasspeicher im Moment nur zu 68 Prozent gefüllt seien, sei die Versorgung im Winter nicht in Gefahr, allerdings könnten die Preise weiter steigen.
Der Sprecher des Kremls in Moskau widersprach am Sonntag den europäischen Überlegungen zur russischen Exportpolitik: "Ist Gazprom bereit, weiter und weiter Verträge abzuschließen? Gazprom ist daran interessiert", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow im russischen Staatsfernsehen. "Denn unsere Verbraucher in Europa sind unsere wichtigsten Partner."