Energie-Politik nach Art des Kremls
1. Januar 2006Der staatlich kontrollierte Konzern Gazprom ist Russlands größtes Unternehmen und damit von äußerst wichtiger Bedeutung für die Volkswirtschaft. Seine Gasvorräte liegen nach offiziellen Statistiken bei 28 Billionen Kubikmetern, was mehr als 15 Prozent der weltweiten Reserven entspricht. Gazprom erwirtschaftete damit etwa 13 Prozent des russischen Staatshaushalts 2004.
Der Einfluss reicht aber weit über die russischen Grenzen hinaus: Die Firma, die über die größten Gasreserven der Welt verfügt, deckt etwa die Hälfte des Gasbedarfs der Europäischen Union. Mit Blick auf die großen Industrienationen als Kunden kündigte Präsident Wladimir Putin zum Jahreswechsel an, man wolle weltweit eine "zuverlässige Energieversorgung" erreichen.
Mit Wirtschaft hat das nichts zu tun
Die Ukraine, seit der "Revolution in Orange" von der Gunst des Kremls abgeschnitten, spricht dagegen im konkreten Fall von Erpressung. Der Gazprom gab sich zu Neujahr nicht einmal mehr Mühe, die politischen Ambitionen hinter dem Gasboykott zu verbergen. "Wir meinen, dass es der ukrainischen Staatsführung unmöglich sein wird, ihrem Volk den Grund für eine derart kurzsichtige Politik zu erklären", sagte ein Gazprom-Sprecher am Sonntag. Mit "kurzsichtig" war das angebliche Versagen des in Moskau unbeliebten Präsidenten Viktor Juschtschenko bei den Verhandlungen gemeint.
Ukraine in der Zwickmühle
Allem Anschein nach setzt der russische Machtapparat aus Politikern und Energieversorgern auf Massenproteste in der Ukraine und eine Niederlage von Präsident Viktor Juschtschenkobei der Parlamentswahl am 26. März. Bis zu jenem Termin hatte Putin der Ukraine noch an Silvester einen Aufschub angeboten. Juschtschenko schlug die "Gnadenfrist" aus.
Der ukrainische Präsident, der sich um einen engeren Anschluss seines Landes an den Westen bemüht, befindet sich in einem Dilemma: Er kann von der Europäischen Union keine große Unterstützung für seinen Widerstand gegen die Zahlung von Weltmarktpreisen für russisches Erdgas erwarten. Die EU hat die Ukraine kürzlich als Marktwirtschaft anerkannt, was in Kiew als Aufwertung des eigenen Status gefeiert wurde. Marktwirtschaften aber orientieren sich bei der Preisgestaltung am Marktwert einer Ware.
Turkmenistan, Weißrussland und Ukraine gegeneinander ausspielen
Der Kreml hat Vorsorge getroffen, dass sich die Ukraine nicht auch noch aus der Energieabhängigkeit lösen kann. Rechtzeitig vor dem 1. Januar sicherte sich Gazprom nach eigenen Angaben die Transportrechte an sämtlichen Gasexporten aus Turkmenien. Denn auch Kiew setzt auf die diktatorisch regierte Ex-Sowjetrepublik am Ostufer des Kaspischen Meeres: Im Vorjahr deckte das Land fast die Hälfte seines Bedarfs aus turkmenischen Lieferungen - die jedoch nur über russisches Territorium in die Ukraine gelangen können.
Dass der Kreml mit seiner Gaspolitik im einstigen Sowjetraum nicht nur abstraft, zeigt das Beispiel Weißrussland. Das Land zahlt selbstverständlich weiter den alten, niedrigen Preis. Dort allerdings sitzt die Regierung des autokratischen Staatschefs Alexander Lukaschenko, die dem Kreml treu ergeben ist. Vor kurzen traten die Weißrussen ihre Pipelines an Gazprom ab. Auch in der Ukraine will der weltweit größte Gasproduzent die Röhren übernehmen. Bislang hat sich Kiew dagegen gewehrt.
Wer hat die Macht?
Es ist nicht das erste Mal, dass Gazprom sich mit wirtschaftlichen Entscheidungen in die Politik einmischt. Im Jahre 2001 übernahm das Unternehmen den wichtigsten unabhängigen Fernsehsender NTW - mit der Begründung, er habe seine Schulden bei Gazprom nicht zurückgezahlt. NTW hatte bis dahin stets kritisch über das Vorgehen Russlands in der abtrünnigen Kaukasus-Republik Tschetschenien berichtet. Nach der Übernahme blieb diese Kritik aus.
Auch der "Fall Ukraine", sagt der Wirtschaftsexperte Andrej Illarionow, habe "nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun." Illarionow hatte bis zu seiner Entlassung Ende 2003 Putin als Unterhändler bei der G8 gedient. Den Posten als Putins Wirtschaftsberater kündigte Illarionow vorsorglich vor einer Woche. (arn)