Endlich eine Identität
31. Juli 2015Auf Weltkarten ist sie gar nicht zu sehen. Nur auf Landkarten mit großem Maßstab: die zickzackartige und von kleinen Punkten gesäumte Linie. Die komplizierte Grenze zwischen Indien und Bangladesch: Die kleinen Flecken stehen stellvertretend für einen Jahrzehnte andauernden Gebietskonflikt zwischen den südasiatischen Nachbarn, deren Beziehungen sehr komplex sind. Es sind dutzende kleine Niemandsländer: Mehr als 160 Enklaven, Unter-Enklaven und sogar Unter-Unter-Enklaven, indische in Bangladesch, bangladeschische in Indien. Teilweise winzige Gebiete, nicht größer als ein Reisfeld. Oder einzelne Dörfer.
Mit Bewohnern, die von ihren Regierungen weitgehend vergessen und vom Leben praktisch ausgeschlossen waren. Die flache und sumpfige Region ist bettelarm, es fehlen Straßen, Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen. Und die Menschen besaßen keinerlei Personalpapiere, galten als staatenlos und hatten entsprechend auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Offiziell durften sie ihre jeweilige Enklave nicht verlassen, jeder Grenzübertritt war rechtlich gesehen illegal. Für die Betroffenen ein schwer erträglicher Zustand.
Historische Unterzeichnung in Dhaka
Jetzt ändert sich das: An diesem Freitag (31.07.) werden die Enklaven offiziell eingegliedert und an den Staat, in dem sie liegen, zurückgegeben. Die auf der indischen Seite der Grenze sind künftig auch indisches Staatsgebiet - und in Bangladesch ist es umgekehrt genauso. Den Menschen steht es frei, auf ihren Grundstücken zu bleiben oder in ihr jeweiliges Heimatland zurückzukehren. Sie müssen - oder dürfen - sich für eine Staatsangehörigkeit entscheiden.
Möglich wurde das durch die Unterzeichnung eines Abkommens zwischen dem indischen Regierungschef Narendra Modi und seiner bangladeschischen Amtskollegin Sheikh Hasina Anfang Juni. Ein Abkommen, dass Bangladeschs Außenminister Abul Hassan Mahmood Ali als "historischen Meilenstein in den bilateralen Beziehungen" bezeichnete. Die beiden Unterschriften setzen einen offiziellen Schlusspunkt unter einen jahrzehntealten Grenzstreit, der die bilateralen Beziehungen beider Länder belastet. Auch Modi benutzte bei der anschließenden Pressekonferenz starke Worte, um die Bedeutung dieses Schrittes zu bekräftigen. "Wir haben Lösungen für eine Frage gefunden, die seit der Unabhängigkeit nachklingt. Unsere beiden Länder haben ihren Grenzstreit beigelegt. Das wird unsere Grenzen und das Leben der Menschen dort sicherer machen."
Tödliche Grenze
Tatsächlich war die Realität im Grenzgebiet geprägt von Gewalt. Immer wieder nämlich kam es an der Grenze auch zu tödlichen Zwischenfällen: "Shoot to kill", so lautete die Vorgabe der indischen Grenzpolizei, wenn sie einen Flüchtling auf frischer Tat ertappte. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden so allein zwischen 2001 und 2011 etwa 1000 Menschen getötet, die meisten davon Bangladeschis. In den wenigsten Fällen wurde nachgeforscht. Die Sicherheitskräfte wurden nicht belangt, die meist bettelarmen Angehörigen der Opfer eingeschüchtert und die Fälle einfach zu den Akten gelegt. Etwa 50.000 Soldaten tun Dienst an der Grenze, es gibt auch einen Grenzzaun, zweitausend Kilometer lang. Deutliche Zeichen dafür, wie tief der Konflikt geht.
Dass mit dem neuen Grenzabkommen jetzt alle Probleme behoben werden können, das glaubt Madhu Kishwar, Professorin am renommierten "Centre for the Study of Developing Societies" in Neu Delhi, nicht. Auch, wenn sie die Einigung rund um die Rückgabe der Enklaven grundsätzlich begrüßt, sieht sie die Auswirkungen des Schrittes skeptisch. "Ich denke, dass das nichts am Problem der illegalen Einwanderung von Bangladesch nach Indien ändern wird."
Ein vielschichtiges Problem
Insgesamt ist der Lebensstandard auf der indischen Seite der Grenze höher als auf der bangladeschischen. Allerdings sind wirtschaftliche Gründe nicht allein für das Problem der illegalen Grenzübertritte verantwortlich, meint Madhu Kishwar. "Natürlich gibt es Flüchtlinge, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Indien wollen. Aber ein großer Teil der illegalen Migration hat einen ganz anderen, politischen Hintergrund. Radikale Islamisten wollen die demografische Zusammensetzung der Grenzregion beeinflussen. In einigen indischen Grenzdistrikten gibt es mittlerweile eine muslimische Mehrheit."
Insgesamt verläuft der Migrations-Trend in der Grenzregion nach Einschätzung von Kishwar weitgehend nur in eine Richtung. "Weder indische Muslime noch indische Hindus haben ein besonders großes Interesse daran, nach Bangladesch überzusiedeln." Für viele Menschen sind es aber auch ganz private Gründe, die die Entscheidung, zu welchem Land sie künftig gehören wollen, beeinflussen: Binod Chandra beispielsweise lebt in einer indischen Enklave im bangladeschischen Lalmonirhat - und will nur eins: nach Indien. "Fast alle meine Verwandten leben dort. Ich möchte in ihrer Nähe sein." Ganz anders sieht es Shahjahan Mondol aus der gleichen Enklave. "Bangladesch bedeutet mir alles. Meine Familie wohnt im ganzen Land verstreut. Wo sollte ich hingehen, wenn ich sie alle zurücklasse?"
Der lange Schatten der Kolonialzeit
Die Enklaven sind ein Relikt der Vergangenheit, stammen noch aus der Zeit vor 1947, in der Indien und Pakistan - zu dem Bangladesch bis zum Unabhängigkeitskrieg und der Abspaltung im Jahr 1971 gehörte - Teil der britischen Kronkolonie waren . Die zahlreichen Enklaven im Grenzgebiet sind ein Resultat von Gebietsaufteilungen zwischen verschiedenen Maharadschas und anderen Fürsten, die unter britischer Herrschaft dort um Einfluss stritten.
Mit der Unabhängigkeit von Großbritannien und der Teilung des Subkontinents standen diese Lokalfürsten vor der Entscheidung, zu welchem Land sie gehören wollten: Indien oder Pakistan. Und entsprechend wurde ihr Land auf den neuen Karten dem jeweiligen Staat zugeschlagen. Nach der Abspaltung von Bangladesch, dem früheren Ostpakistan, blieb der Status der über 160 Enklaven weiter ungeklärt.
Geografisch liegen die Enklaven auf indischer Seite im Bundesstaat West-Bengalen im Distrikt Cooch Behar. Auf bangladeschischer Seite sind vor allem die Distrikte Panchagarh, Nilphamari, Lalmonirhat und Kurigram betroffen. Wie viele Einwohner die schwer zugänglichen Enklaven genau haben, ist nicht bekannt. Verlässliche Statistiken gibt es nicht, Schätzungen gehen weit auseinander, schwanken zwischen 50.000 und ca. 70.000.
Wer möchte welche Staatsbürgerschaft - und warum?
Vom 6. bis zum 16. Juli war nun die Bevölkerung aufgerufen, sich in einer von verschiedenen Ministerien und der Regierung des indischen Bundesstaates West-Bengalen durchgeführten Umfrage für eine der beiden Staatsbürgerschaften zu entscheiden. Stellungnahmen zum Ausgang gab es von offizieller Seite bislang nicht. Die indische Zeitung "The Hindu" zitiert aber das "Bharat Bangladesh Enclave Exchange Coordination Committee", eine NGO, die auf beiden Seiten der Grenze tätig ist. Demnach will die Mehrheit der bangladeschischen Bewohner auf indischer Seite in Indien bleiben, wohingegen die Entscheidung der indischen Bevölkerung in Bangladesch maßgeblich von der Höhe möglicher Kompensationszahlungen abhänge - für den Fall, dass sie ihre Grundstücke verlassen, um auf der anderen Seite der Grenze weiter zu leben. Diesbezüglich gibt es aber noch keine klaren Richtlinien.
Nach der Befragung werden nun die Ergebnisse ausgewertet und Listen erstellt, wer künftig auf welcher Seite der Grenze leben möchte - und welche Nationalität damit verbunden ist. Bis Ende November sollen dann alle Umzüge und Einbürgerungen abgeschlossen sein.
Debarati Guha hat zu diesem Artikel beigetragen.