Ende der Geduld
25. Oktober 2019In den zurückliegenden zwei Wochen waren gleich zwei Länder Südamerikas Schauplatz von heftigen Protesten: Chile und Ecuador. Von Nachbarländern kann man nicht sprechen. Sie sind etwa 3000 Kilometer voneinander entfernt. In beiden Fällen wurden die Proteste durch eine bestimmte Entscheidung der jeweiligen Präsidenten ausgelöst, durch Lenín Moreno in Ecuador und Sebastián Piñera in Chile. Ein Funke, der massive Reaktionen der Zivilgesellschaft auslöste.
Vergleichbare Tendenzen gebe es auch in anderen Ländern Südamerikas, meint Valeska Hesse, Leiterin der Abteilung Lateinamerika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Sie erinnert daran, dass der ecuadorianische Präsident Moreno, genau wie auch Argentiniens Staatschef Mauricio Macri, Sparmaßnahmen ankündigen musste - erzwungen durch Kreditverhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). "Der IWF propagiert seit über 50 Jahren dieselben Rezepte, das heißt, Sparsamkeit bei den öffentlichen Ausgaben und die Liberalisierung in der Wirtschaft", sagt Hesse.
Obwohl Chile kein Schuldenproblem habe, gebe es in dem Land am südlichsten Zipfel Amerikas Parallelen zu Ecuador und Argentinien. "Chile ist das neoliberalste Land der Welt. Alle Bereiche des öffentlichen Lebens sind privatisiert: Renten, Gesundheit, Bildung." Doch viele Chilenen kommen offenbar kaum über die Runden - ein wichtiger Auslöser für den Protest: "Die Mittelschicht in Chile verdient im Durchschnitt etwa 700 Euro im Monat und hat Lebenshaltungskosten die vergleichbar sind mit Berlin."
Indizes der Ungleichheit
Dabei kann Chile eigentlich gute Wirtschaftsdaten vorweisen. Dies wird durch Berichte wie den der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) gestützt, wonach beispielsweise die Armut in Chile zwischen 2016 und 2019 um drei Prozentpunkte gesunken ist. Derselbe Bericht stellt jedoch fest, dass in Chile ein Prozent der Bevölkerung 26,5 Prozent des Vermögens besitzt.
Unterschiede zwischen Reichen und weniger Wohlhabenden seien in vielen Ländern Lateinamerikas zu beobachten, sagt die FES-Expertin. Es sei nicht die ärmste Region der Welt, "aber die, mit der extremsten Ungleichheit". Dies belegt auch der internationale Gini-Index der Weltbank. Nur zwei der zehn Länder mit der höchsten Ungleichheit liegen nicht in Lateinamerika: Südafrika und Ruanda. Chile liegt auf dieser Liste auf Platz sieben.
Michael Álvarez ist Sprecher der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin und hat viele Jahre deren Büro in Santiago de Chile geleitet. Seiner Ansicht nach sind - nach Fortschritten im Sozialbereich in den Nullerjahren - verschiedene lateinamerikanische Länder seit einigen Jahren wieder auf Sparkurs. Es gehe darum, so Álvarez, wie das Problem der Staatseinnahmen strukturell behandelt wird. "In Ecuador, in Argentinien und anderen Ländern der Region gibt es ein wachsendes Defizit, und der Staat begegnet dem nicht mit einer systematischen Reform der Steuereinnahmen, heißt, einer Steuerreform."
Nach Ansicht von FES-Lateinamerika-Expertin Valeska Hesse gab es zwar "in der Zeit der linksgerichteten Regierungen viele Umverteilungsprogramme, die in der Lage waren die Armut zu lindern". Es sei jedoch nicht gelungen, die dringenden strukturellen Probleme zu lösen.
Domino-Effekt
Gibt es bei den Protesten eine Art "Ansteckungsgefahr" für andere Länder der Region? Die Expertin der Friedrich-Ebert-Stiftung sieht diese Gefahr nicht: "Wenn das was in Ecuador und Chile geschieht, ansteckend wäre, hätte ich mir vorgestellt, dass auch die Menschen in Argentinien auf die Straße gehen. Aber vielleicht tun sie das nicht, weil dort am Sonntag sowieso Wahlen sind".
Skeptischer äußert sich Bettina Horst, stellvertretende Direktorin der konservativen chilenischen Denkfabrik "Libertad y Desarollo": "Jedes Land in Lateinamerika hat seine wirtschaftlichen Unterschiede. Das einzige gemeinsame Element ist, dass es immer organisierte Gruppen der radikalisierten Linken gibt, die die Demokratie destabilisieren wollen. Da wo sie nicht an die Macht kommen, versuchen sie es mit Gewalt". Ihrer Meinung nach geschieht genau das gerade in Chile: "Protest, ohne klare Forderungen, ohne eine Führungsfigur, der nur die Demokratie destabilisieren will."
Dem widerspricht Michael Álvarez. Er verurteilt entschieden die Gewaltausbrüche in Chile, stellt aber fest, dass es viele friedliche Demonstranten gibt, die ihre Rechte einforderten. Und dies nicht nur in Chile: "Im Vergleich zum vergangenen Jahrhundert sind die Menschen in Lateinamerika nicht mehr bereit, sich die soziale Ungleichheit gefallen zu lassen." Und dies habe - davon ist Álvarez überzeugt - auch mit einem Erstarken der Zivilgesellschaft in den vergangenen 20 Jahren zu tun.