Embryos aus dem Labor - ohne Sperma und Eizelle
7. September 2023Führende Stammzellbiologen liefern sich derzeit ein Wettrennen. Alles begann Mitte Juni. Da war es Magdalena Żernicka-Goetz von der Universität Cambridge gelungen, embryoähnliche Modelle bis zu einem Stadium heranwachsen zu lassen, das einem 14 Tage alten Embryo entspricht. So ein Zeitraum in der Petrischale, das war krass.
Nun hat eine konkurrierende Arbeitsgruppe um den israelischen Forscher Jacob Hanna ebenfalls ihre Forschungsergebnisse im Journal Nature veröffentlicht. Auch sie knacken die 14 Tage. Plus: Ihre Embryomodelle sind "komplett", weisen also alle Strukturen auf, die ein echter Embryo in diesem Stadium hat.
Nach zwei Wochen sind die Zellhaufen etwa einen halben Millimeter groß. Das ist ungefähr so groß wie ein Sandkorn. Bloß: Diese Haufen sind eben kein "echter" Embryo. Sie wurden aus embryonalen Stammzellen herangezüchtet. Durch menschliche Hand – ohne Sperma und Eizelle.
Ein ethisches Dilemma
"Unser Ziel ist es nicht, Leben zu erschaffen", sagte Żernicka-Goetz, als ihre Ergebnisse veröffentlicht wurden und zahlreiche Medien mit frankensteinähnlichen Szenarien um sich warfen. Bloß kommen wir der Möglichkeit künstlichen Lebens immer näher. Wann und wo also ist Schluss?
Zwar sind wir inzwischen fähig, Menschen auf den Mond oder Meeresgrund zu befördern, über die ersten Momente unserer Existenz ist jedoch überraschend wenig bekannt. Denn Forschende bekommen über diese Zeitspanne nicht mehr heraus, ohne das heranwachsende Leben zu gefährden. Darum gehen sie den Umweg über Tier- oder Embryonenmodelle.
Embryonenmodelle können helfen, frühe Schwangerschaftsverluste, genetische Erkrankungen oder angeborene Organdefekte besser zu verstehen. Magdalena Żernicka-Goetz sagt, dass sie mit ihrer Forschung die Blackbox der frühen menschlichen Entwicklung öffnen will. Für viele klingt es jedoch eher so als hätte sie gerade das Tor zu Frankensteins Kabinett aufgestoßen.
Das Problem: Ein gutes Modell ist dem Original so ähnlich wie möglich. Bloß: "Je näher man dem Original kommt, desto eher gerät man wieder in die ethischen Probleme, die einen anfangs davon weggetrieben haben", meint Hank Greely, Juraprofessor und Ethikexperte an der Universität Stanford. Kurzum: Man will nah dran. Aber nicht zu nah. Weil dann wird's gruselig.
Forschende bevorzugen Begriff "embryoähnliche Modelle"
Als er die Arbeit der Arbeitsgruppe um Jacob Hanna gesehen hat, habe ihn das erste Mal ein unheimliches Gefühl beschlichen, sagt Jesse Veenvliet vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Solch ein Gefühl habe er normalerweise nicht, wenn er embryoähnliche Strukturen anschaue. Als Entwicklungsbiologe könne er meist gleich erkennen, dass es sich dabei nicht um Embryonen handle. Bei diesen Strukturen war ihm das allerdings nicht auf den ersten Blick klar. Veenvliet sagt anerkennend: "Die sehen fantastisch aus".
Wie viele andere Stammzellforscher betont Veenvliet trotzdem: "Man kann diese Modelle nicht wirklich als Embryonen bezeichnen". Besser sei der Begriff "embryoähnliche Modelle". Diese Differenzierung unterstrich Ende Juni auch die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR).
Für den Biologen Veenvliet gilt: Der Ententest – ein Vogel, der geht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, ist eine Ente – ist im Reich der Embryologie nicht anwendbar. Für den Ethiker Greely hingegen ist ein Vogel, der geht, schwimmt und quakt wie eine Ente am Ende des Tages schlicht und ergreifend genau das. Beziehungsweise: Wenn aus der Struktur ein Baby entstehen kann, dann ist es auch ein Embryo. Forschende gäben sich derzeit große Mühe, zu sagen: "Das ist kein Embryo. Das ist kein Embryo. Das ist kein Embryo". Logisch. Ihr Ziel sei es schließlich, weiter zu forschen, so Greely.
Modelle (noch) nicht lebensfähig
Bei genauerem Hinsehen hätten die Modelle viele Unterschiede zu menschlichen Embryonen, betont Jesse Veenvliet. Sie überspringen beispielsweise das Stadium, in dem die Einnistung in die Gebärmutter stattfindet. Lebensfähig seien sie nicht. Das sei auch gar nicht beabsichtigt.
Im Tiermodell ist man bereits einen Schritt weiter: Anfang April hatten Forschende in Shanghai Blastoide aus Stammzellen von Affen erzeugt und in die Gebärmutter von Affen eingepflanzt. Blastoide sind Zellhaufen, die dem Embryo vor seiner Einnistung ähneln. Die Affen zeigten Anzeichen einer Schwangerschaft. Nach einigen Tagen brachen diese jedoch spontan ab. Auch hier ist man also weit davon entfernt, künstliches Leben zu erzeugen.
Embryonenforschung: Die 14-Tage-Debatte
Wendet man sich den gesetzlichen Bestimmungen zu, landet man in einem großen Kessel Buntes. Die meisten Länder, darunter China, das Vereinigte Königreich oder Kanada, erlauben Forschung an menschlichen Embryonen bis zum 14. Tag. In Ländern wie Deutschland, der Türkei oder Russland sind solche Experimente komplett verboten. Brasilien und Frankreich setzen keine zeitliche Grenze. In den USA kommt es darauf an, in welchem Bundesland man sich befindet.
Die 14-Tage-Frist, an der sich die meisten Länder orientieren, geht auf die bioethischen Empfehlungen des Warnock-Reports aus dem Jahr 1984 zurück. Nach zwei Wochen nämlich beginnt in der Embryonalentwicklung die Gastrulation, also die Ausbildung unterschiedlicher Schichten, aus denen sich später die verschiedenen Gewebe und Organe entwickeln. Nach zwei Wochen kann sich ein Embryo außerdem nicht mehr in eineiige Zwillinge aufspalten. Ein erster Anhaltspunkt für Individualisierung.
Damals, in den 1980er Jahren, schien die 14-Tage-Frist ein guter Kompromiss zu sein: Man konnte die Sorgen der Gesellschaft befrieden und gleichzeitig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, weiter zu forschen. Lange Zeit war es technisch ohnehin nicht möglich, Embryonen im Labor länger als fünf oder sechs Tage zu kultivieren.
Das ist heute anders, wie die Forschungsergebnisse von Magdalena Żernicka-Goetz und Jacob Hanna demonstrieren. Doch dass aus ihren Modellen tatsächlich Menschen entstehen, ist aktuell ausgeschlossen. Für embryoähnliche Strukturen halten viele Wissenschaftler die 14-Tage-Regel daher für überholt.
Bereits 2021 hat die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung gefordert, die 14-Tage-Regel zu überdenken.
Auch Jesse Veenvliet findet, dass dies nun an der Zeit sei. Das erste Mal, dass Forschende menschliche Embryonen außerhalb der Gebärmutter heranzüchten und am Leben halten konnten, war ziemlich genau 30 Jahre, nachdem die 14-Tage-Regel das Tageslicht erblickt hat. Selbst wenn man die Frist auf beispielsweise 21 Tage verlängern würde – das ist der Zeitpunkt, wenn Vorläuferstrukturen des Herzens entstehen – sei es gut möglich, dass es weitere 30 Jahre dauere, bis die Wissenschaft diese nächste Zeitetappe knackt.
Aus dem letzten Jahrtausend: Embryonenschutzgesetz in Deutschland
In Deutschland ist die rechtliche Lage gleich doppelt verzwickt. Einerseits ist Embryonenforschung hier komplett verboten. Das regelt das Embryonenschutzgesetz, das 1990 verabschiedet wurde. Gleichzeitig liegen hier abertausende Embryonen herum, die als Überbleibsel entstehen, wenn Paare eine künstliche Befruchtung durchführen lassen. Die darf man töten, kryokonservieren, wegwerfen. Bloß forschen, das geht nicht, erklärt der Jurist Jochen Taupitz.
Stattdessen ist es in Deutschland sehr wohl erlaubt, embryonale Stammzellen aus dem Ausland zu importieren. Mit diesen darf dann auch in Deutschland geforscht werden. Ein deutliches Zeichen von Doppelmoral, meint Taupitz.
Er würde sich wünschen, dass in Deutschland endlich mal jemand gegen das Verbot klagt, mit Embryonen zu forschen. Passieren müsste das vor dem Bundesverfassungsgericht. Und da landet man nur, wenn man strafgerichtlich verurteilt wurde, weil man die verbotene Forschung eben durchgeführt hat. Dann könnte die Gesetzgebung neuen Schwung kriegen. Bisher riskiert das niemand.