Verschwundene in El Salvador
1. September 2010Am Dienstag (31.08.2010) präsentierte die Regierung von El Salvador eine nationale Kommission, die sich mit dem Schicksal der verschwundenen Kinder während des Bürgerkrieges (1980-1992) beschäftigen soll. "Diese Kommission beginnt, eine historische Schuld des Staates aufzuarbeiten", sagte Außenminister Hugo Martínez. Mitglieder sind unter anderem der Menschenrechtsbeauftragte Óscar Humberto Luna, der Weihbischof des Erzbistums San Salvador, Gregorio Rosa Chávez und der Priester Antonio Rodríguez von der Nichtregierungsorganisation "Pro Búsqueda", die bereits seit Jahren nach den Verschwundenen des Krieges sucht.
Dunkles Kapitel
Die Kommission war vor allem auf Weisung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte (CIDH) aus dem Jahr 2005 eingerichtet worden. Die salvadorianische Regierung rang sich jedoch erst jetzt, fünf Jahre später und 19 Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges, dazu durch, eines der dunkelsten und bislang noch wenig aufgearbeiteten Kapitel seiner Geschichte zu öffnen: 75.000 Tote und 1,5 Millionen Flüchtlinge – das ist die statistische Bilanz einer der gewalttätigsten Bürgerkriege auf dem ganzen Kontinent. Zudem "verschwanden" mehr als 8.000 Menschen zu jener Zeit, über deren Schicksal oftmals bis heute Unklarheit herrscht.
Nach Angaben von "Pro Búsqueda" waren unter ihnen auch rund 900 Kinder, die teilweise von Militärangehörigen selbst adoptiert oder gegen Zahlung hoher Geldsummen zur Adoption ins Ausland gegeben wurden.
Schweigen, statt erinnern
Auf politischer Ebene wurde das Thema lange ignoriert, die Problematik von El Salvadors Verschwundenen ist weitaus weniger präsent als etwa in Argentinien, Chile oder Guatemala. Das liege auch an der "Politik des Vergessens", sagt José Lazo Romero von der Menschenrechtsorganisation "Tutela Legal" in San Salvador.
Nach dem Motto "perdón y olvido" ("Verzeihen und Vergessen") wurde eine systematische Aufarbeitung der Vergangenheit in den vergangenen Jahren mit Verweis auf das "Aufreißen alter Wunden" stets vermieden. Das könne jedoch nicht der Weg zur Versöhnung sein, so Lazo: "Es gibt 8.000 Verschwundene, über deren Schicksal wir bis heute nichts wissen. Was ist mit den Müttern, die immer noch fragen, was aus ihren Söhnen wurde? Du kannst doch eine Mutter nicht bitten, dass sie vergisst!"
"Vom Wahnsinn zur Hoffnung"
Auskunft über das Ausmaß des Bürgerkriegs gab bereits eine Wahrheitskommission, die am 15. März 1993 ihren Bericht mit dem bezeichnenden Titel "Vom Wahnsinn zur Hoffnung" vorlegte und darin konstatierte, dass zwischen 1980 und 1992 etwa 85 Prozent der Gewaltakte durch den Staat oder seine verbündeten paramilitärischen Gruppen und Todesschwadronen begangen worden waren.
Die zentrale Empfehlung des Berichts, nämlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wurde jedoch nicht erfüllt, die Täter laufen bis heute frei herum: Den nur wenige Tage nach Veröffentlichung verabschiedete das Parlament mit großer Mehrheit ein Gesetz über die "Generalamnestie für die Konsolidierung des Friedens" für alle vor dem 1. Januar 1992 begangenen politischen Verbrechen.
Oscar Romero - bekanntestes Opfer
Auch gegen eine Gedenkstätte für die Opfer des Bürgerkrieges wehrte sich die Regierung lange Zeit: Heute steht im Parque Cuscatlán im Zentrum von San Salvador eine 85 Meter lange Granitmauer, auf der die Namen von über 35.000 zivilen Opfern eingraviert sind.
Zu den bekanntesten zählt wohl der 1980 ermordete Erzbischof Oscar Arnulfo Romero und die 1989 ermordeten Jesuiten-Priester der Zentralamerikanischen Universität UCA.
Die finanziellen Mittel für dieses Mahnmal stammen allein von privaten Initiativen und Opferverbänden, teilweise auch von Organisationen im Ausland. "Diese Erinnerung gefällt vielen Leuten nicht, denn die Namen und Daten passen nicht zur offiziellen Vergangenheit des Landes", sagt José Lazo.
Alte Wunden, neue Gewalt
Die unzureichende historische Aufarbeitung und das Ausblenden der Vergangenheit hätten dazu beigetragen, dass in El Salvador zwei sich grundlegend widersprechende Geschichtsversionen nebeneinander existieren. Er ist für die Organisation "Tutela Legal" tätig, die auch vom deutschen Hilfswerk Adveniat unterstützt wird.
Das Rechtshilfebüro der katholischen Kirche in El Salvador wurde 1982 wurde gegründet, um das Schicksal der Opfer des Bürgerkrieges aufzuklären und zu dokumentieren.
Heute bietet die Einrichtung Rechtsberatung für die Ärmsten, sie sucht nach Verschwundenen und betreibt Workshops zur Gewaltprävention an Schulen, denn das jahrelange Ausblenden der Vergangenheit hat Folgen für die Gegenwart.
Reiche werden nie bestraft
Mit über 56 Morden pro 100.000 Einwohnern gilt El Salvador aktuell als eines der gefährlichsten Länder auf dem ganzen Kontinent. Und auch heute werden die Täter selten belangt, es herrscht faktisch Straflosigkeit. "Hier gibt es ein Sprichwort: Das Gesetz gilt nur für die Armen. Also: Der Kleinkriminelle, der Auto- oder Handydieb wird bestraft", erklärt José Lazo. Bandenchefs und Drogenbosse hingegen hätten meist genug Geld und Einfluss, um nicht belangt zu werden.
Es ist nicht der einzige Grund für die hohen Gewaltraten in El Salvador aber ein zentraler: Denn wenn die Menschen Salvador eines aus ihrer Vergangenheit gelernt hätten, so der Menschenrechtler, dann das: "Die Straflosigkeit, die bis heute andauert, lädt doch geradezu dazu ein, weitere Verbrechen zu begehen."
Autorin: Ina Rottscheidt
Redaktion: Anne Herrberg