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El Niño von der Waterkant

Lutz Reidt 3. Mai 2003

In der Ostsee lässt Frischwasser-Zufuhr aus der Nordsee die Wasserqualität deutlich steigen. Dies ist seit zehn Jahren nicht mehr passiert. Warum jetzt, weiß niemand so recht.

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Mehr Sauerstoff für den DorschBild: AP

Wenn die Dorschfischer an der Ostsee früh am Morgen ihre Häfen verlassen, haben sie meist nicht viel Hoffnung, mit prall gefüllten Netzen zurückzukehren. Der Dorsch ist selten geworden. Der beliebte Fisch hatte in den vergangenen Jahren zu wenig Nachwuchs. Außerdem sind zu viele Fischkutter unterwegs, die sich um die letzten Dorsche aus der Ostsee streiten. Doch in den nächsten Jahren könnte es wieder besser werden. Denn die Ostsee hat eine Frischzellenkur erhalten. Und zwar aus der Nordsee.

Spiegelglatt ist die Ostsee, und die Frühlingssonne lässt das Wasser glitzern und funkeln. Zwischen Fehmarn und der dänischen Insel Lolland hat das Forschungsschiff "Gauss" einen Stopp eingelegt. An der Steuerbordseite der "Gauss" senkt der gelb lackierte Kran eine knapp anderthalb Meter große Sonde ins Wasser, die unter anderem Sauerstoff- und Salzgehalt der Ostsee bestimmen soll.

Ad-hoc Expedition

Große Mengen Nordseewasser sind nämlich in die Ostsee geströmt. Und dieses Wasser enthält viel Salz und vor allem viel Sauerstoff. Zum ersten mal seit zehn Jahren erhält die Ostsee eine Frischekur, und Rainer Feistel vom Institut für Ostseeforschung Warnemünde verfolgt diesen Prozess seit drei Monaten. Als die Forscher bemerkten, dass ein Salzwasser-Einbruch größeren Umfangs im Januar stattfand, stellten sie ad-hoc eine Expedition mit ihrem Forschungsschiff auf die Beine. Die wurde bis zum Bornholm-Skad geführt und hat bereits herausgefunden, dass dort größere Mengen salzhaltiges und sauerstoffreiches Wassers eingedrungen waren. Die nachfolgende Routine-Expeditionen bestätigten, dass in der Bornholm-See Sauerstoffgehalte und Salzwerte vorlagen wie seit 10 Jahren nicht mehr. "Das ist für uns eine sehr interessante Entwicklung", so Feistel.

Interessant deshalb, weil normalerweise das Ganze unter umgekehrten Vorzeichen steht: Salzarmes und damit leichtes Wasser verlässt als "Baltischer Strom" die Ostsee. Es fließt durch die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden hindurch in die Nordsee. Mitte Januar allerdings peitschte ein heftiger Westwind mit Sturmstärke eine Woche lang übers Meer und schob das Wasser in die andere Richtung: nach Osten. Der Pegel der westlichen Ostsee sank um 80 Zentimeter. Als Folge drängten die salz- und sauerstoffreichen Wassermassen aus der Nordsee ostwärts und hatten nach wenigen Wochen die Bornholm-See erreicht - sehr zur Freude der Fischer. Denn dieses Meeresgebiet rund um die dänische Insel Bornholm ist die Kinderstube eines wichtigen Speisefisches: des Kabeljaus, in der Ostsee auch Dorsch genannt.

Sauerstoff für den Dorsch-Laich

Wenn nicht genügend sauerstoffhaltiges Wassers aus der Nordsee in die Ostsee strömt, ist die Fortpflanzung gefährdet. Der Kabeljau laicht im freien Wasser, wo diese Eier dann schweben. Diese sinken in dem leichten, weniger dichten Ostseewasser in eine gewisse Tiefe ab. "Wenn sie aber in der Tiefe zu sauerstoffreiem Wasser gelangen, dann sterben sie ab", sagt der Fischereibiologe Siegfried Ehrich von der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg

Toter Dorsch vor Timmendorfer Strand
Erstickter Dorsch am Strand der Lübecker Bucht zwischen Timmendorf und TravemündeBild: AP

Nun aber lässt das Sauerstoff reiche Wasser aus der Nordsee die Ostsee und den Kabeljau aufatmen. Das zeigen auch die etwa tausend Wasserproben, die an Bord der "Gauss" aus der Ostsee gezogen wurden. Das frische und sehr kalte Nordseewasser gleitet wie ein Gletscher über den Meeresgrund - langsam, aber stetig. 20 Meter dick und mehr als 15 Kilometer breit ist es von der Arkonasee vor Rügen bis ins rund 90 Meter tiefe Becken nordöstlich von Bornholm geströmt. Von dort wälzt es sich jetzt weiter Richtung Gotlandtief, das zwischen Lettland und der schwedischen Insel Gotland liegt und zu den tiefsten Stellen der Ostsee zählt. Früher kam es fast jährlich zu solchen Salzwasserschüben. Doch zu Beginn der 70er Jahre riss diese Periodik ab. Warum, weiß niemand. Es gibt noch nicht einmal eine vernünftige Theorie. "Wir wissen nur , dass es globale klimatologische Veränderungen gibt", so Feisel. Und man wisse, dass in vielen Gegenden der Welt in den 70er Jahren Umschwünge eingesetzt haben, wo Prozesse, die bisher zur Erwärmung führten, plötzlich zur Abkühlung führten. "Wir vermuten, dass auch diese Einstromereignisse in die Ostsee mit diesen globalen Veränderungen zusammen hängen" - eine Art El Nino zwischen Nord- und Ostsee.

Komplexe Klimaveränderungen

Da der Ablauf eines einzelnen Einstromprozesses so kompliziert sei - mit 10 Tagen Wind in die eine Richtung, zehn Tage Wind in die andere Richtung, ist es nach gegenwärtigen Modellen nicht möglich, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den klimatologischen Veränderungen über dem Nordatlantik und diesen Ereignissen hier in der Ostsee. Dem Wissenschjaftler Feisel macht dass Kopfschmerzen. Den Fischern ist das letztlich egal. Und der Kabeljau freut sich auch.