EKD-Präses: Weihnachten "krasser Mutmacher"
23. Dezember 2022Anna-Nicole Heinrich ist ein anderes Gesicht von Kirche als üblich. Die 26-Jährige ist seit eineinhalb Jahren Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Damit ist sie die ranghöchste evangelische Laiin. Die Synode mit 128 Mitgliedern ist eines der wesentlichen Entscheidungsorgane der EKD. Sie beschließt Kirchengesetze und äußert sich zu kirchlichen und gesellschaftlichen Themen.
Im Interview der Deutschen Welle schildert Heinrich, die mit elf Jahren getauft wurde, ihr Verständnis von Weihnachten und von kirchlichen "role models", die zu wenig gesehen würden.
Deutsche Welle: Frau Heinrich, in diesen Tagen vor Weihnachten reisen weltweit, nicht nur in Deutschland, zigmillionen Menschen für das Fest über lange Distanzen nach Hause. Was steckt dahinter?
Heinrich: Weihnachten ist eines der letzten großen Rituale, die wir haben. Das ist eine Zeit, die eigentlich für alle irgendwie besonders ist. Man will zu den Menschen, die man lieb hat. Das kann Familie sein, das muss aber nicht Familie sein. Man besinnt sich auf die Menschen, die einem am wichtigsten sind. Ich finde das super-wichtig.
Und durch die Heimatbesuche kompensiert man fehlende Besuche im restlichen Jahr?
Das glaube ich nicht, dass es aus solchen Motiven geschieht. Diese Reisen sind durch und durch mit Positivem verbunden, unabhängig davon, unabhängig warum man Weihnachten feiert. Ich komme persönlich ja aus einer nicht-christlichen Familie. Aber auch für uns war es gut, diese Feiertage zu haben. Nicht wegen irgendeines Defizitempfindens, sondern eher als familiäres Happening.
Als Elfjährige ließen Sie sich taufen. Nun, 15 Jahre später, leiten Sie als Präses die Synode, also das evangelische Kirchenparlament. Sie sind damit die ranghöchste evangelische Laiin in Deutschland. Wie würden Sie beschreiben, was Weihnachten bedeutet?
Weihnachten ist für mich eine heilsame Unterbrechung und Neuausrichtung. Eigentlich werden ja alle radikal aus dem üblichen Alltag herausgerissen. Damit entsteht ganz viel Zeit, in der man andere Dinge machen und über andere Sachen nachdenken kann. Das hat angesichts der Hektik, die uns sonst umgibt, etwas von einer Provokation.
Aber die Geschichte, die dahintersteht und die die Bibel erzählt, ist mindestens ebenso provokativ. Da wird gewartet auf einen König, auf jemanden, von dem es heißt, er sei super-mächtig. Und dann kommt jemand, der so anders ist. Einfach nur ein hilfloses Baby - als König. Das ist doch eine Provokation. Keine, die aggressiv macht, sondern eine, die hoffen lässt und irgendwie neugierig macht. Es gibt einen Satz, den ich mir manchmal wie ein Mantra selbst sage: Keine Veränderung ohne Provokation! In der Weihnachtsgeschichte sieht man: Gottes Provokation, als kleines Kind selbst zu den Menschen zu kommen, löst positive Neugier aus. Und sie bringt Hoffnung und Zuversicht mit.
"Hoffnungsbotschaft in Krisensituationen"
Nun war dieses Jahr geprägt von Krisen. Der russische Angriff auf die Ukraine und neue Kriegsängste, Sorgen angesichts des Klimawandels, neue Sinnfragen...
Das zeigt erst recht, wie sehr wir die Weihnachtsgeschichte brauchen. Sie steht dafür, an das Unerwartbare zu glauben und Raum zu lassen, dass Gott in diese Welt kommen oder in dieser Welt wirken kann. Ich verstehe das als Hoffnungsbotschaft in solchen Krisensituationen, dass wir immer damit rechnen dürfen, dass etwas Heiliges in die Welt kommt und uns in krisenhaften Situationen hilft.
Eines der Kernworte der Weihnachtsgeschichte ist das "Fürchtet Euch nicht" der Engel. Aber die Welt ist voller Furcht.
Für mich ist das "Fürchtet Euch nicht" ein krasser Mutmacher, ein Hoffnungsmacher, einfach Empowerment. Das heißt doch: Hey, hier werden Momente kommen, da wirst du verzweifeln. Aber dann bin ich da und komme vielleicht auch wieder mit meinem Empowerment um die Ecke.
Verspüren Sie persönlich Angst in diesen Monaten?
Ich lebe super-privilegiert, in Deutschland. Ich habe einen Job, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann. Da muss ich persönlich keine Ängste haben. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen. Gerade vor dem Hintergrund in welchen existentiellen Ängsten andere Menschen in Europa gerade leben müssen. Wir können ihre Ängste nur erahnen.
Vor kurzem sprach ich in Berlin mit einer Vertreterin einer ukrainischen Menschenrechtsorganisation, die seit Kriegsbeginn mobilitätseingeschränkte Menschen von der Frontlinie evakuieren, vor allem aus den umkämpften Gebieten. Normalerweise erfahren wir in den Nachrichten aus den Kämpfen eher sachliche Berichte oder Zahlen. Und dann erzählt jemand von der Arbeit in stark verminten Regionen, in freigekämpften Städten. Mich haben diese Geschichten sehr berührt. Und irgendwie gibt es mir selbst Hoffnung, wenn Menschen in so bedrängenden Situationen nicht die Hoffnung verlieren.
Vielen Menschen ihrer Generation macht der Klimawandel Angst.
Die Klimakatastrophe beschäftigt mich zutiefst. Aber ich spüre keine tief verwurzelte Angst. Ich wehre mich auch dagegen, weil zu viel Angst mich irgendwie auch lähmt. Aber es ist schon deutlich: Je jünger jemand ist, desto dringlicher wird das Anliegen formuliert. Das ist nicht Angst und nicht Verzweiflung. Das sind Zukunftssorgen. Gut, dass es diese Stimmen gibt. Für mich ist ihr Engagement auch ein Zeichen, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben.
Zuletzt überwog die Sorge, ob das Geld reicht für Heizung und Strom, geschweige denn für Geschenke.
Die Sorgen unserer Tage mahnen uns als Kirche für Gerechtigkeit einzutreten und Menschen in Not zu helfen. Wenn ich die Szenerie von Weihnachten noch mal aufnehmen darf: Da war Platz für alle, auch für die, die wie die Hirten unerwartet in die Gegend kamen.
Und was heißt das konkret?
Als EKD und Diakonie haben wir vielfältige Aktionen gestartet unter dem Stichwort #Wärmewinter. Es geht darum, noch mal aufmerksamer zu sein für die, die frieren oder finanzielle Sorgen haben. Als Kirche sollten wir diesen Gemeinschaftsgedanken an diesem Weihnachtsfest noch mal stärker machen und Platz lassen für unerwartete Gäste. Offen sein und offene Türen haben für Leute, die vielleicht kein Umfeld haben, in dem sie diese Tage verbringen können. Einsamkeit ist nie so hart wie in diesen Tagen. Viele Kirchengemeinden zeigen da im Stillen sehr beeindruckendes Engagement.
Eigentlich sind die Kirchen in Deutschland in der Krise. Aber an Weihnachten haben Kirchengemeinden Hochsaison. Da kommen die treuen Kirchgänger und jene, die vielleicht nur noch einmal im Jahr in die Kirche gehen. Gelegentlich gibt es fast sogar Streit, wenn die Gottesdienste zu voll sind.
Ich hoffe eigentlich, dass wir das überwunden haben. Die Kirchen sollten Weihnachten und gerade die Gottesdienste als echte Chance sehen. Das sind doch Momente, zu denen viele in ihre Heimatorte zurückkehren, in denen sie vielleicht mal eine Beziehung zur Kirchengemeinde hatten oder Jugendjahre verlebten.
"Kein bunter Hund"
Junge Leute Ihres Alters gehen ja nur noch selten in die Kirche. Wie feiert Ihre Generation?
Wieso? Ich fühl mich im Gottesdienst nicht als bunter Hund. An solchen Tagen erlebe ich viele junge Leute. Und ich feiere ein typisches Weihnachten für jemanden, der in einer Patchworkfamilie aufgewachsen ist und an Weihnachten versucht, möglichst viele Menschen wiederzusehen.
Als Sie Präses der EKD-Synode wurden, waren Sie 25 Jahre alt. Ihre Vorgängerin war da 78. Sind Sie mit Ihrer jungen Art und neuen Ansätzen auch ein Vorbild?
Ende August tagte ja die Vollversammlung des Weltkirchenrats für zehn Tage in Karlsruhe. Da waren Leute aus über 100 Ländern. Hinter den Kulissen sorgten viele junge Kräfte aus aller Welt für die Organisation. Und aus unterschiedlichen Ländern kamen junge Leute auf mich zu, sprachen mich an, wollten ein gemeinsames Selfie. Es hat sie ermutigt, dass bei uns jungen Menschen Verantwortung übertragen wird. Irgendwer muss einfach mal loslaufen.
Das hat einen riesigen Empowerment-Faktor, wenn es role models auch in kirchlichen Institutionen gibt. Umgekehrt erlebe ich das ja auch selbst: Als ich in diesem Jahr in New York war, traf ich Rabbinerin Sharon Kleinbaum, die dort eine queere jüdische Gemeinde gegründet hat und vor allem Migrationsarbeit für queere Geflüchtete in den USA macht. Nun folge ich ihr auf Instagram und kann miterleben, wie aus ihrer Tat- und Überzeugungskraft Veränderung wächst.
Braucht Kirche mehr solcher role models?
Eigentlich haben wir sie. Schauen Sie auf die vielen in der Kinder- und Jugendarbeit, bei den Johannitern und Maltesern im Rettungsdienst. Wir müssen einfach mehr davon erzählen. Es gilt: Sei ehrenamtlich! Aber erzähl auch von deinem Ehrenamt und gönn es dir auch etwas, Sinn oder Vernetzung, für dich mitzunehmen.
Das klingt beeindruckend. Aber in Deutschland gehören immer weniger Menschen einer Kirche an. Seit diesem Jahr ist nicht einmal mehr jeder Zweite Mitglied einer der großen Kirchen. Als das im Sommer diskutiert wurde, tingelten Sie vier Wochen auf "Präses-Tour" durch Deutschland und führten Gespräche. Was haben Sie da gelernt?
Die wichtigste, wesentliche Erkenntnis der Präses-Tour war wohl, dass wir eine hörende, eine erkundende, eine fragende Kirche sein sollten. Und dass auf das Hinhören nicht direkt Antworten folgen müsse. Vielleicht eher ein Nachfragen. Im besten Fall werden wir dann mit den Menschen gemeinsam Antworten finden. Zu einer solchen Erkundungsphase kann ich nur allen raten. Große Visionen und Kirchen-Konzepte zu formulieren ist das eine. Aber wir müssen offen sein für das Leben und die Fragen der Menschen.
Das Gespräch führte Christoph Strack
Anna-Nicole Heinrich (26) ist seit Mai 2021 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie ist damit die ranghöchste Person im wichtigsten Gremium des deutschen Protestantismus. Heinrich wurde im bayerischen Schwandorf geboren. Ihre Eltern waren nach der Wende aus Thüringen nach Bayern gezogen. Das Präses-Amt ist ein Ehrenamt. Heinrich, die verheiratet ist, studiert an der Universität Regensburg, hat bereits einen Studienabschluss in Philosophie und arbeitet als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität.