"Einfach schön"
24. Oktober 2016"Das Leben ist zu kurz, um zu weinen", sagt Monica Singh. Und weigert sich schlicht, es anders zu sehen. "Ich will nicht mit dem Schicksal hadern und immer wieder um meine Vergangenheit trauern." Wenn die junge Frau heute in den Spiegel schaut, dann blickt ihr eine andere Person entgegen als vor ein paar Jahren. Nicht nur, weil sie älter geworden ist. Sondern, weil sie ein neues Gesicht hat. Ein vernarbtes Gesicht, das erzählt von dem, was ihr passiert ist. An diesem einen Tag im Jahr 2005. Als ihre Vergangenheit abrupt endet. Als Monica Singh auf offener Straße mit Säure übergossen wird und bei lebendigem Leib große Teile ihres Körpers verätzen.
19 Jahre alt ist sie damals. Eine hübsche junge Frau aus Delhi, voller Ziele und Hoffnungen. Den Moment, als es passierte, kann sie nicht vergessen. "Das war ein Brennen, so wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Alle Menschen um mich herum starrten mich an, wurden Zeugen einer Live-Horror-Show. Es war grauenhaft. Mehr möchte ich nicht beschreiben." Den Täter kennt Monica Singh kaum, er sei als Stalker bekannt gewesen, sagt sie. "Er war besessen von dem Gedanken, mich zu heiraten. Er wollte, dass ich mit ihm durchbrenne, meine Ausbildung abbreche und meine Familie zurücklasse." Als sie ihm einen Korb gibt, dreht er durch. Und ihr Leben auf den Kopf.
Über einen Zeitraum von neun Jahren ist Monica Singh immer wieder im Krankenhaus, lässt eine Operation nach der anderen über sich ergehen, fast 50 insgesamt. Halt gibt die Familie, vor allem der Vater. Und auch ihre Freunde sind da für sie, so gut es geht. Noch immer gibt es manchmal kleinere Rückschläge, dann fehlen ihr Kondition und Kraft. Aber meistens ist sie schmerzfrei. Heute, mit knapp 30 Jahren, lebt sie in New York, studiert Mode-Marketing an einer Design-Hochschule. Sie hat eine eigene Stiftung gegründet, tritt als Motivationssprecherin auf.
Begegnung mit Folgen
So lernt sie im Frühjahr 2016 den Filmemacher und Produzenten Ram Devineni kennen, als sie vor den Vereinten Nationen eine Rede hält. Devineni hat ein paar Monate zuvor schon zwei andere überlebende Opfer von Säureattacken getroffen. Er ist beeindruckt von ihrer Stärke – und gleichzeitig wütend. "Ich habe gelernt, dass diese Frauen mit denselben Stigmata und gesellschaftlichen Reaktionen zu kämpfen haben wie Vergewaltigungsopfer. Und ihr Heilungsprozess wird durch die ablehnende Haltung der Gesellschaft behindert. Oft werden sie als Schuldige angesehen und behandelt wie Verbrecher."
Dieses Bild möchte Devineni - der im Jahr 2015 beim Sundance Film-Festival für "The Russian Woodpecker" mit dem großen Jury-Preis ausgezeichnet wurde - verändern. Er beschließt, das sensible Thema für eine breite Öffentlichkeit aufzubereiten. Und zwar in Form eines Comics. "Priya's Mirror" heißt er, am Wochenende wurde er bei der diesjährigen Comic-Messe in Mumbai offiziell vorgestellt. Darin kämpft eine Gruppe von Säureopfern an der Seite von Superheldin Priya. Priya hilft den sichtbar gezeichneten Frauen, ihre Ängste zu überwinden und der tyrannischen Macht eines Dämonenkönigs zu entfliehen. Eine Geschichte voller Symbolik.
Die Figur Priya gibt es schon: Sie hat bereits in einem anderen Comic-Projekt von Ram Devineni die Hauptrolle gespielt: Eine Frau, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. "Priya ist die erste indische Comic-Superheldin. Die Figur ist nach der Gruppenvergewaltigung in einem Bus in Delhi Ende 2012 entstanden. Priya's Mission ist es, mehr Mitgefühl für Vergewaltigungsopfer zu wecken." Sie kämpft gegen die bestehende Realität in Indien an: wo Männer alles bestimmen und Frauen wenig wert sind. Der Comic wurde zu einem internationalen Erfolg mit mehr als einer halben Million Downloads. "Weltweit erschienen mehr als 400 Artikel", berichtet Devineni. Einen ähnlichen Erfolg wünscht er sich jetzt auch für die Fortsetzung der Geschichte.
Verschiedene Formate
Priya's Mirror" ist der erste Comic, der von der Weltbank finanziert wurde. Er steht gratis auf sämtlichen großen Plattformen zum Download bereit, neben Hindi auch auf englisch, italienisch, spanisch und portugiesisch. Weitere Sprachen sollen folgen. Die Macher wünschen sich, dass das Angebot vor allem auch in Schulen genutzt wird, dort könnte es einen wichtigen Beitrag zum Umdenken leisten. "Teenager sind in einem kritischen Alter, wenn sie beginnen, sich mit Geschlechterrollen auseinanderzusetzen und sich ihre eigene Meinung zu bilden", erklärt Ram Devineni. "Da ist dieser Comic ein mächtiges Werkzeug."
Zum Comic wurde auch eine App entwickelt. Hier gibt es unter anderem die Möglichkeit, virtuell Gesichtsmasken aufzusetzen, beispielsweise bei Profilbildern auf Facebook oder WhatsApp – solche, wie sie Opfer von Säureattacken auch tragen. Auch auf diese Weise soll das Bewusstsein für das Problem geschärft werden.
Jahr für Jahr werden auf der Welt rund 1500 Mädchen und Frauen Opfer von Säureattacken, gibt die Hilfsorganisation Acid Survivors Trust International (ASTI) an. Die Dunkelziffer könnte noch deutlich darüber liegen. "Viele Opfer sprechen nicht über das, was ihnen passiert ist. Weil das Thema Säureattacken gesellschaftlich tabuisiert ist, sagen sie stattdessen lieber, sie hätten sich am Küchenfeuer verbrannt oder ähnliches", sagt Ram Devineni. Andere – wie Monica – tun genau das Gegenteil.
In die Offensive
"Ich habe mich nie versteckt. Aber ich kenne das Gefühl, Hemmungen zu haben. Die Angst, in Gesellschaft anderer Menschen als nicht normal angesehen zu werden." Für sich selbst hat sie entschieden, sich der Situation zu stellen. "Ich habe nie zugelassen, dass die Gesellschaft mich als 'armes Mädchen' abstempelt." Vielleicht ist Monica Singh auch deshalb eine von mehreren Frauen, deren Gesicht Vorlage für den Comic "Priya's Mirror" war.
Gezeichnet wurden sie und die anderen von Dan Goldman. Keine einfache Aufgabe für den Künstler. "Ich wollte die Narben der Frauen auf keinen Fall in einer ausbeuterischen Form darstellen. Gleichzeitig war es aber auch unbedingt erforderlich, das Ausmaß der Vernarbung zu zeigen. Sonst hätte würde das Anliegen des Comics an Wirkung verlieren." Schließlich fand Goldman für sich einen Ausweg aus diesem Dilemma. "Ich habe die Gesichter der Frauen erst normal dargestellt und die Narben zuletzt hinzugefügt. Auf diese Weise war es mir möglich, sie als heile Menschen darzustellen und ihnen eine gewisse Poesie zu verleihen." Nicht die verätzte Haut sollte im Vordergrund stehen, sondern die Person dahinter.
Die Zeichnungen stimmte er vor Veröffentlichung mit den Frauen ab. Goldman wollte sicher gehen, dass sie sich damit wohl fühlten. "Es ist so ein hoch sensibles Thema. Und ich wollte sie auf keinen Fall auf eine Weise darstellen, mit der sie nicht glücklich sind." Monica jedenfalls ist sehr zufrieden. Die Resonanz sei überwältigend, schildert sie. " Alle lieben das Buch. Es braucht einfach Heldinnen aus Fleisch und Blut, mit denen sich andere verbunden fühlen können. Uns so zu zeigen wie wir sind, das ist stark und wirkungsvoll."
Eine, die niemals aufgibt
Monica Singh ist sich immer selbst treu geblieben, im alten wie im neuen Leben. Sie hat ein anderes Gesicht bekommen, aber sie ist immer noch Monica. Die, die sich nicht unterkriegen lässt. "So war ich schon immer, haben meine Eltern gesagt." Für Säureopfer wie sie ist es wichtig, sich so zu akzeptieren, wie man ist, erklärt sie. Wenn man das nicht schaffe, könne man nicht weitermachen. Die Opferrolle ist nichts für sie. "Ich sehe das Wort Opfer überhaupt nicht in Verbindung mit mir. Ich bin eine selbstbewusste, gebildete und starke Frau. Ich bin mehr als nur eine Überlebende." Sie selbst findet andere Worte, um sich zu beschreiben: Motivationsrednerin, Modedesignerin, Stylistin, Marketing-Expertin, Menschenfreund - und Model. "Immerhin bin ich auf der New York Fashion Week gelaufen."
Ob sie ein glücklicher Mensch ist? "Nein, das würde ich so nicht sagen. Aber ich bin humorvoll. Ich habe gelernt, mit der Situation umzugehen. Meine Stärken sind mein Selbstbewusstsein und meine Bildung. Wenn ein Mensch ein gutes Herz hat und klug ist, dann muss man diesen Menschen einfach schön finden, denke ich."