"Einen seriösen Plan B gibt es nicht"
29. Mai 2005DW-WORLD: Herr Wessels, als Professor für Europafragen haben Sie sich ausgiebig mit dem "Vertrag über ein Verfassung für Europa" beschäftigt. Haben Sie denn einen Lieblingsartikel?
Wolfgang Wessels: Ja, es gibt sogar mehrere Lieblingsartikel. Das eine ist die Präambel, die die meisten überlesen. Diese versucht, diesen Verfassungsvertrag in einen etwas breiteren Kontext zu setzen, wobei ich das nicht notwendigerweise für gut und tragfähig heiße. Aber die Präambel gibt der Verfassung eine ganz besondere Ausrichtung. Bisher ist es ja die einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die die Europäische Union auch weiterhin primär bleibt. Die Präambel setzt die europäische Politik aber in einen anderen, staatsphilosophischen Zusammenhang, eine andere Art von Identitätsschaffung. Ein zweiter Artikel, der mir gut gefällt, ist der über die Aufteilung der Kompetenzen. Das ist zwar kein revolutionärer Akt, aber bringt etwas Ordnung und Systematik hinein.
Nun hat die Verfassung rund je nach Ausgabe zwischen 340 und 500 Seiten. Nur wenige EU-Bürger haben Sie gelesen. Können Sie denn die Kernelemente in fünf Sätzen formulieren?
In der Tat, das ist eins der Probleme, das muss man ganz deutlich sagen. Der Verfassungsvertrag versucht im ersten Kapitel Grundlagen zu schaffen, in dem die Werte, die Kompetenzverteilung, die Rolle der Institutionen aufgelistet wird und auch etwas zum demokratischen Leben geschildert wird. Ein zweites Kapitel handelt von den Grundrechten, ein ganz wichtiges Element. Das dritte und ausführlichste Kapitel behandelt die einzelnen Politikbereiche, die sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was schon jetzt gültig ist. Das letzte Kapitel sind die Schlussbestimmungen. Es ist schwierig eine grundlegende klare Richtung zu sehen. Der Verfassungsvertrag ist wie viele europäische nationale Verfassungen auch in wesentlichen Bereichen mehrdeutig, weil er ein Kompromiss ist. Auch im Grundgesetz gibt es viele Artikel, bei denen man nicht genau weiß, wie sie nun wirklich zu verstehen sind. Und wir sind dann überrascht, was das Bundesverfassungsgericht dort alles so "hineinliest". Noch deutlicher wird das im amerikanischen Kontext, wo die Verfassung ja auch immer wieder neu interpretiert und anders ausgelegt wird. Also eine klare und eindeutige Aufbereitung ist schwierig.
Können Sie dennoch unseren Lesern zumindest ein bisschen mehr Klarheit verschaffen. Die fragen uns immer, was bringt denn die Verfassung dem einzelnen EU-Bürger im Alltag?
Ja, genau das kann ich nicht. Ich möchte betonen: Das ist wie bei jedem Grundgesetz, bei jeder Verfassung. Hier werden Möglichkeiten geschaffen, es werden Werte und Normen gesetzt die dann ausgefüllt werden müssen von den Politikern, die wir wählen. Und deshalb weiß man nicht, was mit dieser Verfassung in den nächsten fünfzehn Jahren an Politik betrieben wird. Man kann nur generell sagen, dass wesentliche Politikentscheidungen etwas transparenter gemacht werden als bisher. Dass unsere Wahl zum europäischen Parlament wichtiger wird, dass das europäische Parlament eine größere Rolle spielt. Man muss Ihre Frage im Grunde genommen indirekt beantworten: Hier werden Chancen, Möglichkeiten geschaffen, die meines Erachtens Vorteile bringen können. Aber man kann nicht ganz konkret sagen: Also der Frisör hat jetzt diesen Vorteil oder wir als Professoren hätten jenen Vorteil. Das wäre kurzatmig.
Das, was sie zum Inhalt ausführen, klingt sehr positiv. Warum sind denn dann so viele Bürger in der EU gegen die Verfassung - siehe z.B. Frankreich?
Die französischen Anti-Stimmungen finden Sie im ganzen Parteienspektrum, von rechts außen bis links außen mit ganz unterschiedlichen Argumenten. Ein Teil dieser Stimmungen ist einfach innenpolitisch formuliert. So sagt man: "Das ist eine gute Chance Herrn Chirac oder, noch mehr, Herrn Raffarin abzustrafen. Sagen wir doch mal 'Nein' zu denen, die in Paris sitzen." Das zweite ist: In jeder Verfassung gibt es kritische Punkte. Da sagt man, hier werden Möglichkeiten eröffnet, die man nicht haben möchte.
Wie zum Beispiel?
So ist im Umfeld der Friedensbewegung immer wieder thematisiert worden, dass der EU in Krisensituationen mehr militärische Möglichkeiten eröffnet werden. Oder was in Frankreich sehr diskutiert wird: Wie stark wird der freie Markt gefördert. Meines Erachtens nicht mehr, als es schon der Fall ist. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um Fragen an Europa und ihrem Verfassungsvertrag, sondern Fragen an die Politik insgesamt. Hier entzündet sich eine normale Kontroverse über Grundfragen, wie wir unsere Gesellschaft strukturieren wollen und was für eine Politik wir in unserer Gesellschaft machen wollen. Diese Art von Diskussion ist ähnlich auch etwa um die amerikanische Verfassung geführt worden. Die wurde ja nicht einfach so jubelnd von allen akzeptiert, sondern es war ein sehr umstrittenes Vorhaben.
Lesen Sie im zweiten Teil, was ein Scheitern des Referendums in Frankreich bedeutet und ob es einen Plan B gibt.
Wurden die Referenden zu früh angesetzt. Hätte man sich da mehr Zeit lassen sollen?
Ich denke nicht. Denn wenn meine Ursachenanalyse korrekt ist, kommen hier Grundstimmungen zum tragen. Die würden sich auch an anderen Texten festmachen und natürlich gibt es immer Kontroversen. Zum Beispiel der Gottesbezug, der in Polen eine Rolle spielen könnte. In Frankreich wird damit ermöglicht, dass muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch in die Schule gehen können. Solche Fragen kann man auf Dauer nicht vermeiden. Ich glaube nicht, dass man ein von der breiten Mehrheit der Bevölkerung abgesegnetes Dokument so einfach bekommen würde. Wirft man es praktisch der Öffentlichkeit "zum Fraß" vor, dann entzünden sich viele Diskussionen. Oft geht es dann nicht mal konkret um die Verfassung oder einem ihrer Artikel, sondern um das, was hineingedacht wird - So wird etwa die Frage der türkischen Mitgliedschaft thematisiert, obwohl das gar nicht zur Abstimmung jetzt steht.
Was bedeutet es, wenn ein Referendum scheitert, wie zum Beispiel in Frankreich oder in den Niederlanden?
Es bedeutet, dass der Verfassungsvertrag erst einmal nicht in Kraft tritt. Es ist sicherlich noch ein Unterschied, ob er in Frankreich abgelehnt wird oder in den Niederlanden, oder in Dänemark, wo man vielleicht einen zweiten Anlauf starten könnte. In Frankreich wird es meiner Meinung nach keinen zweiten Anlauf geben. Es ist auch nicht klar, was das wesentliche französische Problem ist. Sondern Sie haben verschiedenste Probleme, die z.T. auch gegenläufig sind in der Diskussion.
Gibt es denn keinen Plan B?
Einen seriösen Plan B gibt es nicht. Es gibt Wissenschaftler, Kollegen von mir, die darüber viel geschrieben haben, was man aus dem Verfassungsvertrag noch herausnehmen kann, damit er ratifiziert wird. Einiges wird ja auch schon ohne Verfassungsvertrag betrieben. Also der Plan B könnte lauten: Was kann man gutes hinüberretten. Aber jeder Plan B muss davon ausgehen, dass damit das Vorhaben erst mal gescheitert ist. Ich glaube nicht, dass man in Frankreich noch ein zweites Referendum dazu macht. Das würden sicherlich selbst die Befürworter einer Verfassung in Frankreich als nicht adäquat empfinden.
Das heißt: Alle gedruckten Exemplare des Verfassungsvertrages wären für den Papierkorb?
Für die breite Öffentlichkeit ja, für meine Studenten nicht. Für die wissenschaftlichen Arbeiten ist das ein sehr guter Spiegel auch des Standes, dessen, was man sich für die Zukunft der EU vorgestellt hat, was ja auch von der Regierungsseite und der Parlamentsseite überall einen großen Zuspruch findet. In Frankreich wäre es ohne Schwierigkeiten durch die Parlamente gegangen. Der Verfassungsvertrag identifiziert ja wesentliche Probleme und schlägt vor, wie man diese behandelt. Insofern ist das weiterhin ein Dokument, das für die Diskussion - auch über das weitere Geschehen - einen wichtigen Orientierungspunkt gibt. Doch die politische und rechtliche Bedeutung wäre in der Tat erst mal gestorben.
Wolfgang Th. Wessels hält den Jean Monnet Lehrstuhl am Institut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen an der Universität Köln