Eine neue NATO
2. September 2014Der NATO-Gipfel in Newport rückt näher und damit auch ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des transatlantischen Bündnisses. Nach dem Ende des Kalten Krieges und den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich der strategische Kontext für die NATO nun zum dritten Mal in 25 Jahren entscheidend verändert. Von Kiew über Kirkuk bis nach Kabul und darüber hinaus geraten alte Gewissheiten des westlich geführten globalen Sicherheitssystems ins Wanken. Um in dieser unruhigen Zeit weiterhin eine Rolle zu spielen, muss die NATO ihren Auftrag, ihre Struktur, ihre Fähigkeiten und die Frage der Mitgliedschaften neu bewerten.
Auch wenn diese Neubewertung nicht über Nacht vorgenommen wird, können am kommenden Wochenende schon Schritte in die richtige Richtung unternommen werden. Oberste Priorität in Newport wird sein, eine Antwort auf die Lage in Osteuropa zu finden. Doch Entscheidungen über das Jetzt sollten zusammen mit Diskussionen über eine Vision für eine neue NATO getroffen werden, eine Vision, die den Verbündeten und Partnern neuen Schwung gibt und durch die sie ein neues transatlantisches Sicherheitssystem selbst gestalten können, statt nur zu reagieren.
Schon lange ist klar, dass dieses Jahr ein Jahr des Übergangs für die NATO sein wird. Das Ende der NATO-geführten ISAF-Mission in Afghanistan, der Abzug der Kampftruppen von dort und der Übergang zu einer Ausbildungs-, Unterstützungs- und Beratungsmission - all das ist kritisch für das Bündnis, das nach fast zwölf Jahren Krieg ausgelaugt ist.
Russlands Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine hat diesem Übergangsjahr noch mehr Dringlichkeit und Intensität verliehen und die möglichen langfristigen Gefahren für Sicherheit und Stabilität an der NATO-Ostgrenze aufgezeigt. Die andauernde Krise hat bei den östlichen NATO-Mitgliedern und den nordischen Partnern existenzielle Ängste ausgelöst. Sie hat auch bei Nichtmitgliedern in Südost- und Osteuropa Sorgen geweckt und Fragen nach der künftigen Mitgliederstruktur aufgeworfen. Sobald diese beantwortet sind, werden sie fast mit Sicherheit eine russische Reaktion hervorrufen.
Die Unruhe in Osteuropa wird verstärkt besonders durch die Art, wie sich die Krim-Krise entwickelt hat. Die Krim wurde nicht mit herkömmlicher Militärgewalt annektiert, sondern durch einen innovativen Einsatz militärischer Mittel: Männer in "Grün" wurden eingeschleust, umfangreichen Manövern fanden nahe der Grenze zur Ukraine statt, dazu kamen gezielte Information beziehungsweise Desinformation und das Schüren von Nationalismus. Es war eine Mischung aus Einschüchterung, einem Stellvertreterkrieg, Propaganda und Invasion, aber es war kein wirklicher Krieg. Die NATO-Mitglieder an der ukrainischen oder russischen Grenze haben dabei gemerkt, dass das Bündnis auf diese Strategie erschreckend unvorbereitet war, und - noch besorgniserregender -, dass dieses Vorgehen auch in anderen Staaten mit starken russischen Minderheiten angewendet werden könnte, vor allem in den drei baltischen Ländern.
Als Folge wachsen die Zweifel an der fortdauernden Gültigkeit der militärischen Beistandspflicht für die jüngsten Mitglieder der NATO - trotz anderslautender amerikanischer und westeuropäischer Beteuerungen. Diese Zweifel bedrohen den Kern des Zusammenhalts und des Konzepts der gemeinsamen Sicherheit und Abschreckung.
Glaubwürdigkeit bewahren
Bewaffnete Konflikte in Westafrika, Libyen, Syrien und im Irak beunruhigen die NATO, vor allem diejenigen Mitgliedsstaaten, die am meisten von der Ausbreitung von Gewalt, Waffen und Extremismus rund um das Mittelmeer betroffen sein können. Dazu kommt, dass die Allianz mit dem Kampf gegen asymmetrische Bedrohungen beansprucht ist, wie Cyberangriffe und Störungen der Infrastruktur. Und schließlich spielt sich all das vor dem Hintergrund ab, dass die USA versuchen, im verschärften strategischen Wettbewerb mit China zu bestehen.
Die Konflikte in Nordafrika und im Nahen Osten zeigen darüber hinaus, wie sich Afghanistan alternativ entwickeln könnte. Sollte sich die Sicherheitslage in Afghanistan im Laufe der Jahre 2014 und 2015 deutlich verschlechtern, könnte das die Glaubwürdigkeit der NATO untergraben - vor allem, da sich die Lage dort nach der NATO-Intervention in Libyen ebenfalls verschlechtert. Das wird für die NATO die heikle Frage aufwerfen, warum nach mehr als zehn Jahren Krieg in Afghanistan Sicherheit und Stabilität dort in immer weitere Ferne rücken.
Wie man auf dieser immer länger werdenden Liste drängender Konflikte die richtigen Prioritäten setzt und wie man dies mit der Wahrnehmung in den einzelnen Mitgliedsstaaten in Einklang bringt, ist keine leichte Aufgabe. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, wie angespannt die transatlantischen Beziehungen in letzter Zeit sind und dass die Verteidigungshaushalte der größten NATO-Länder gleichbleibend oder sogar rückläufig sind.
Die NATO-Länder geben weniger aus, Russland mehr
Die NATO-Länder fahren ihre Verteidigungsausgaben rapide zurück. Berechnungen unseres Institut IHS Jane's Defence zeigen: 13 der 20 am schnellsten schrumpfenden Verteidigungshaushalte in der Zeit von 2012 bis 2014 betreffen NATO-Mitglieder oder -Partner.
Umgekehrt weitet Russland seine Verteidigungsausgaben deutlich aus. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das ändern wird. Im Jahr 2012 hat Russland in Sachen Verteidigungsbudget Großbritannien und Frankreich überholt und steht jetzt weltweit auf Rang drei. Die russischen Militärausgaben werden von 59 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf voraussichtlich 77 Milliarden Euro im Jahr 2017 steigen. Russland nimmt damit bei der Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben einen der weltweiten Spitzenplätze ein.
Seit der Annexion der Krim haben einige osteuropäische Staaten angekündigt, mehr für ihre Verteidigung auszugeben. Doch Haushaltskürzungen, fehlender politischer Wille und Unsicherheit, was Stärke und Struktur der Streitkräfte betrifft haben Auswirkungen auf die großen NATO-Armeen. Dies alles sorgt dafür, dass die Zweifel zunehmen, ob das atlantische Bündnis wirklich die nötigen Verteidigungsfähigkeiten besitzt und auf welche Weise und wie lange die NATO diese Fähigkeiten im Notfall wirksam einsetzen könnte.
Die NATO steht in Newport vor einer Situation, die vor allem von großer Unsicherheit geprägt ist und belastet wird durch einen schwächelnden Verteidigungsinstinkt angesichts der größten Herausforderung: eines russischen Vorstoßes in Osteuropa.
In dieser neuen Lage muss die NATO wichtige Entscheidungen zum Umgang mit Russland treffen. Dies aber ohne eine langfristige Perspektive zu tun, ist bedenklich. Ebenso, wie die kritischen Unsicherheiten aus den Augen zu lassen, die eine künftige transatlantische Sicherheit prägen. Das alles würde zu einem Bündnis führen, das überfordert, zersplittert oder zurückgezogen ist. Grundsätzlicher betrachtet: Es würde eine Zukunft heraufbeschwören, in der diese schlagkräftige Militärallianz nicht optimal aufgestellt wäre, um in einer immer unsichereren Zeit für ein stabiles und sicheres Europa zu sorgen.
Tate Nurkin ist Leiter des militärwissenschaftlichen Instituts #link:http://www.janes.com/defence/:IHS Jane's Defence#.