Eindrücke aus einer anderen Welt
20. April 2010Nordkorea ist ein rätselhaftes Land, über das nur wenige Informationen nach außen dringen. In Nordkorea leben rund 23 Millionen Einwohner. Die Regierung unterhält relativ gesehen die größte Armee der Welt. Die Menschen dort feiern nicht ihren eigenen Geburtstag, sondern den von Staatsgründer Kim Il-Sung und seinem Nachfolger Kim Jong-Il. Und: Nordkorea hat die meiste Zeit keine Energie, seit Jahrzehnten sind die Menschen chronisch unterversorgt und leiden Hunger.
Aus Nordkorea dringen lediglich Informationsschnipsel, aber wie es sich anfühlt, dort zu leben, das ist kaum bekannt. In ihrem Buch "Die Kinogänger von Chongjin" liefert die US-amerikanische Journalistin Barbara Demick nun einen guten Einblick in das wohl isolierteste Land der Welt und vor allem in das Schicksal der Menschen während der vergangenen Jahrzehnte. Demick hat jahrelang Interviews mit nordkoreanischen Flüchtlingen in Südkorea geführt und erzählt in ihrem Buch das Leben einiger ihrer Interviewpartner nach.
Gottgleiche Herrscher
Nordkorea ist 1948 infolge des zweiten Weltkriegs entstanden. Ausgerufen von Kim Il-Sung, einem von der Sowjetunion unterstützten jungen Mann. Demick schildert in ihrem mit viel Hintergrundwissen angereicherten Buch, wie Kim Il-Sung das Land ideologisch auf Linie brachte. Der Einzelne sollte sich ganz der Gemeinschaft unterwerfen. Diese Gemeinschaft wurde dann von Kim Il-Sung gelenkt, dem gottgleichen Führer, der um sich herum einen fast schon wahnwitzigen Personenkult etablierte. "In Frau Songs Heim hing, wie in allen anderen auch, ein gerahmtes Portrait von Kim Il-Sung an einer ansonsten kahlen Wand. (…) Die Arbeiterpartei gab die Portraits kostenlos aus, zusammen mit einem weißen Tüchlein, das in einer unterhalb der Bilder deponierten Schachtel aufzubewahren war. Es durfte nur dazu verwendet werden, die Portraits zu säubern (…) Etwa einmal im Monat erschienen unangemeldet Inspektoren der Ordnungspolizei um zu überprüfen, ob die Portraits sauber waren."
Jahrzehntelange Hungersnot
Die von Kim Il-Sung entworfene Juche-Ideologie beruhte unter anderem auf dem Gedanken absoluter Autarkie. Die Bevölkerung sollte vom Staat versorgt, jeglicher Handel – auch der zum Ausland – sollte unterbunden werden. Aber über Jahrzehnte war Nordkorea auf Nahrungsmittel, Energie oder Autos aus dem sozialistischen Ausland angewiesen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion stürzte Nordkorea in eine ökonomische Katastrophe, in dem Land brach kurz darauf eine Hungerkatastrophe aus. "Sie konnten an nichts anderes mehr denken als daran, wo sie das nächste Essen organisieren konnten", erzählt Barbara Demick. "Sie gingen abends mit dem Gedanken ins Bett: 'Morgen nach dem Aufstehen muss ich gleich nachsehen, ob frisches Gras gewachsen ist, das ich abschneiden kann. Wenn nicht, dann finde ich vielleicht irgendwo einen Vogel oder ein Stück Rinde.'"
Auf dem Niveau der 1960er Jahre stehengeblieben
Bis zum Jahr 1998 sollen Schätzungen zufolge bis zu eine Million Menschen verhungert sein. Immer mehr Nordkoreaner überquerten deswegen heimlich die Grenze nach China, um von dort Lebensmittel nach Nordkorea zu bringen. Auf diesem Weg sind in den vergangenen Jahren viele Nordkoreaner über die Flüsse geflohen, Schätzungen zufolge leben heute rund 100.000 Flüchtlinge in China und tausende weitere in Südkorea. Südkorea aber ist den meisten fremd wie ein ferner Planet: "Dort sind sie umgeben von Abkürzungen wie HDTV, mp3 oder MTV, und sie verstehen das alles nicht," sagt Demick. "Sie kennen ja nicht einmal das westliche Alphabet. Nordkoreanische Studenten haben im Regelfall noch nie im Internet gesurft, sie haben wahrscheinlich noch nie einen Computer benutzt oder ein Telefon. Die Zeit in Nordkorea ist ungefähr in den 1960er Jahren stehen geblieben. Auf dem Niveau befinden sie sich."
Die meisten Nordkoreaner finden in Südkorea nur schlechtbezahlte Jobs. Viele sind emotional traumatisiert und leiden unter schlimmen Schuldgefühlen: "Eine Frau in meinem Buch ließ zwei Schwestern zurück," erzählt die Autorin. "Sechs Monate nach ihrer Flucht holte man die Schwestern ab, trennte sie von ihren Ehemännern und ihren Kindern – wahrscheinlich brachte man sie in Arbeitslager. Die beiden hatten nichts gemacht, ihre Schuld bestand darin, dass ihre Schwester geflohen war."
Was, wenn die Wiedervereinigung kommt?
Für Südkorea stelle der Umgang mit den Nordkoreanern eine wichtige Experimentierphase dar, sagt Demick. Denn wenn die Gesellschaft nicht in der Lage sei, die paar tausend Flüchtlinge zu integrieren, wie sollte sie dann mit den 23 Millionen Nordkoreanern fertig werden, falls das nordkoreanische Regime eines Tages kollabiert und der Süden dann den Norden versorgen muss?
Demicks Buch wirft viele spannende Fragen auf und bietet gleichzeitig einen umfassenden und seltenen Einblick in das Leben in Nordkorea. Beim Lesen stellt man sich hin und wieder zwar die Frage, wieviel Demick beim Schreiben fiktionalisieren musste, da sie viele Orte in Nordkorea ja selbst nie gesehen hat. Trotzdem war es richtig, dass sie diese personalisierte Form gewählt hat. Denn ihre Erzählungen nah am Menschen machen ihren Text zu einer fesselnden, spannenden und überaus informativen Lektüre.
Autorin: Silke Ballweg
Redaktion: Thomas Latschan
Barbara Demick: Die Kinogänger von Chongjin, Eine nordkoreanische Liebesgeschichte. Droemer Verlag 2010, 430 Seiten, 19.90 Euro